Im vier­ten Vor­trag mit dem Titel “Chris­ten­tum und Sozia­lis­mus. Eine Volks­ver­samm­lungs­re­de” im Büch­lein “Von Chris­tus zu Marx — von Marx zu Chris­tus” lotet Leon­hard Ragaz die Bezie­hung zwi­schen der Chris­tus­leh­re und dem Kampf um sozia­le Gerech­tig­keit noch ein­mal in aller Tie­fe aus.

Anhand einer klei­nen Ring­pa­ra­bel macht er klar: Chris­ten­tum und Sozia­lis­mus sind ursprüng­lich eine Wahr­heit. Die­se ist in zwei Hälf­ten zer­bro­chen wor­den, von denen jede sich für das Gan­ze hält und mit der ande­ren strei­tet. Die gan­ze Wahr­heit wäre die Ret­tung der Welt, die Tei­lung wird ihr zum Ver­der­ben. 

Ragaz schrieb die­se Zei­len Ende der 20-er Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts. Lässt sich sei­ne Dia­gno­se heu­te noch aufrechterhalten?
Der birsfaelder.li-Schreiberling wür­de die Fra­ge klar bejahen:
Das offi­zi­el­le Kir­chen­chris­ten­tum befin­det sich wei­ter­hin im Krebs­gang. In Basel-Stadt ist gera­de noch jede® vier­te refor­miert oder katho­lisch. Jede® zwan­zigs­te gehört einer evan­ge­li­ka­len oder ande­ren christ­li­chen Gemein­schaft an. Auf der wirt­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Ebe­ne ist das Chris­ten­tum mehr oder weni­ger inexis­tent, — ein­mal abge­se­hen von dubio­sen und meist reak­tio­nä­ren Auf­ru­fen zur “Ret­tung des christ­li­chen Abend­lands oder des jüdisch-christ­li­chen Erbes”. Die Evan­ge­li­ka­len in den USA und Ste­ve Ban­non las­sen grüssen …
Der Sozia­lis­mus als revo­lu­tio­nä­re Kraft für eine radi­ka­le Umge­stal­tung der Gesell­schaft hin zu mehr sozia­ler Gerech­tig­keit hat sich im 20. Jahr­hun­dert mehr­fach dis­kre­di­tiert. Wer heu­te an Karl Marx denkt, ver­bin­det die­sen Namen fast auto­ma­tisch — ob gerecht­fer­tigt oder nicht — mit blu­ti­gen Scher­gen wie Sta­lin oder Mao. Die revo­lu­tio­nä­re Lin­ke führt ledig­lich noch ein Nischendasein.

Es lohnt sich also, die Aus­füh­run­gen von Ragaz zu die­sem The­ma auch heu­te noch — und viel­leicht heu­te erst recht — zur Kennt­nis zu neh­men und zu prüfen.

Seit sei­ner tie­fen, ihn erschüt­tern­den Erfah­rung in Basel stand für ihn die Ver­kün­di­gung des “Rei­ches Got­tes” im Zen­trum, und zwar des “Rei­ches Got­tes für die­se Erde”. Ragaz hält in sei­nem Vor­trag die Bibel betref­fend apo­dik­tisch fest:
Die­ses Buch redet vom ers­ten bis zum letz­ten Wor­te nur von einem: von dem Rei­che Got­tes, das auf Erden kom­men soll. Es beginnt mit der Bot­schaft, dass die Welt von Gott geschaf­fen sei, und das will bedeu­ten, dass sie sinn­voll. auf einen gros­sen Zweck hin geschaf­fen sei. Die­ser Zweck ist die Herr­schaft Got­tes auf Erden (…)
Das Reich Got­tes für die Erde, das ist die Bot­schaft der Bibel. Es steht nichts ande­res drin. Nur davon reden die Pro­phe­ten, nur davon redet Jesus, nur davon reden die Apos­tel; sie tun es auch da, wo sie nicht die­ses Wort brau­chen. Im Mit­tel­punkt des Unser­va­ters, das selbst im Mit­tel­punkt des Neu­en Tes­ta­ments steht, leuch­tet die Bit­te: “Dein Reich kom­me”. Die­ses Reich aber ist für die Erde. Das ist es, was wir nicht genug beden­ken können.

Man ver­steht gera­de in sozia­lis­ti­schen Krei­sen das Chris­ten­tum immer wie­der so — und auch ein Gross­teil der Chris­ten ver­steht es so -, dass es eine Linie bezeich­ne, die über das Dies­seits hin­aus in ein Jen­seits, über die Erde hin­aus in einen “Him­mel” wei­se. Gera­de das Gegen­teil meint die Bibel: sie zeigt eine Linie, die vom Jen­seits ins Dies­seits, vom Him­mel auf die Erde führt.
Wir beten nicht: “Lass uns in dein Reich kom­men”, son­dern: “Dein Reich kom­me zu uns”(…)
Das ist der ganz kla­re Sinn der Bot­schaft Jesu und des gan­zen Neu­en Tes­ta­ments, das die neue Revo­lu­ti­on der Chris­ten­heit, dass wir dies wie­der mit erstaun­ten Augen sehen. Man kann sich gar nicht genug klar­ma­chen, wie anders das ist als das, war wir bis­her uns meis­tens als Sinn der Bibel und des Chris­ten­tums vor­ge­stellt haben. 

Das Reich Got­tes, das die Bibel meint, ist nicht das, war wir eine Reli­gi­on nennen. 

Das tönt schon ganz revo­lu­tio­när, — und das tönt nicht nur, son­dern ist es tat­säch­lich auch.

Dazu mehr am kom­men­den Sams­tag, den 22. April 2023

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