Bevor Leon­hard Ragaz sei­ne eige­ne Posi­ti­on zwi­schen dem dia­lek­ti­schen Mate­ria­lis­mus von Karl Marx und der idea­lis­ti­schen Phi­lo­so­phie des 19. Jahr­hun­derts dar­leg­te, zeig­te er auf, war­um Marx eine durch­aus gerecht­fer­tig­te Gegen­po­si­ti­on zu den idea­lis­ti­schen Phi­lo­so­phen einnahm:
Als Marx auf­trat, herrsch­te in Deutsch­land noch jene soge­nann­te idea­lis­ti­sche Phi­lo­so­phie, die ein ein­zi­ger tita­ni­scher Hym­nus auf den Geist und sei­ne Herr­schaft war. 
An der­je­ni­gen Form des Idea­lis­mus, der durch einen Hegel ver­tre­ten war, hat Marx selbst sein Feu­er ange­zün­det. Die­se idea­lis­ti­sche Phi­lo­so­phie ver­kün­dig­te Gewal­ti­ges vom Men­schen und sei­ner Herr­lich­keit; sie mach­te ihn zum Gott; sie erklär­te das Wer­den der Frei­heit als Sinn der Geschich­te, und die­se Frei­heit war die Mensch­wer­dung Got­tes. Aber die­se Ver­kün­di­gung wur­de nicht, wie man erwar­ten soll­te, zur Revo­lu­ti­on …, son­dern eher zur Reak­ti­on. Sie griff nicht die Welt an, son­dern erklär­te sie, ver­klär­te sie; sie idea­li­sier­te die Wirk­lich­keit, statt sie durch das Ide­al zu verändern.

Die­sem Idea­lis­mus gegen­über erhob sich der Mate­ria­lis­mus eines Feu­er­bach und Marx. Sei­ne Mei­nung war eine durch­aus idea­lis­ti­sche. Es galt, dem Geist, den jene Phi­lo­so­phie ver­herr­lich­te, die Welt zu erobern. Wenn die Phi­lo­so­phen die Welt erklärt hat­ten, so galt es nun … sie zu ver­än­dern; es galt, die Gott­heit des Men­schen in der Mate­rie auf­zu­rich­ten. Das ist der ursprüng­li­che Sinn des mar­xis­ti­schen Mate­ria­lis­mus und ähn­li­cher Denk­wei­sen. Die­ser Mate­ria­lis­mus ist der ech­te Sohn jenes Idea­lis­mus; es lebt in ihm sein gan­zer Schwung; es glüht in ihm sein berau­schen­der Feu­er­geist. Er hat zwei­fel­los ein tie­fes Recht. 

Und dann folgt gleich eine für vie­le Chris­ten ziem­lich schmerz­haf­te Spit­ze, — z.B. für jene, die sich vor weni­gen Jah­ren dezi­diert gegen die Kon­zern­ver­ant­wor­tun­gin­itia­ti­ve stell­ten mit der Begrün­dung, die Kir­chen hät­ten sich gefäl­ligst aus den poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen “Nie­de­run­gen” herauszuhalten:
Das Gesag­te gilt aber auch noch in einer ande­ren Form. Es gibt auch sonst noch einen fal­schen Idea­lis­mus oder Spi­ri­tua­lis­mus, eine fal­sche Art, die Welt zu idea­li­sie­ren und das Recht des Geis­tes zu ver­tre­ten. Sie ist wie­der beson­ders in einem Chris­ten­tum zu Hau­se, das über der Ver­herr­li­chung des inne­ren Lebens die geist­lo­se Bru­ta­li­tät der Ver­hält­nis­se, über dem Hin­weis auf den Him­mel die For­de­rung der Erde, über den Dienst Got­tes des Dienst des Men­schen ver­gisst, aber auch in einem Opti­mis­mus und Patrio­tis­mus der besit­zen­den und herr­schen­den Klas­sen, denen es ein Bedürf­nis ist, in geist­li­chen oder welt­li­chen Sonnn­tags­stun­den schwung­vol­le Idea­le zu ver­kün­di­gen, um sie in der fol­gen­den Stun­de zu ver­ra­ten, die ger­ne die Welt idea­li­sie­ren, damit es nie­man­dem ein­fal­le, sie zu ändern, weil sie ihnen sel­ber ja recht ist. 
Die­sem gan­zen falsch-geist­li­chen und falsch-geis­ti­gen Wesen, die­ser gan­zen idea­lis­ti­schen Lüge tritt wie­der der sozia­lis­ti­sche Mate­ria­lis­mus gegen­über, und wie­der hat er recht.

Leon­hard Ragaz also ein ver­kapp­ter Anhän­ger von Karl Marx? Gemach, gemach …
Er zeigt anschlies­send näm­lich gleich die ent­schei­dend wich­ti­gen Schwach­punk­te des dia­lek­ti­schen Mate­ria­lis­mus auf, — und da steht an ers­ter Stel­le des­sen Ver­knüp­fung mit dem im 19. Jahr­hun­dert domi­nie­ren­den mecha­nis­tisch-deter­mi­nis­ti­schem Bild der Natur:
Sie kennt kei­nen Sinn und Zweck der Welt, son­dern bloss das grö­be­re oder fei­ne­re Räder­werk einer unge­heu­ren Maschi­ne­rie, in wel­che sich das Welt­all ver­wan­delt, in die man viel­leicht noch irgend­ei­nen Geis­tes­glanz hin­ein­sieht, die aber in Wirk­lich­keit weder für Gott, noch für die See­le, noch für die Frei­heit, noch für wahr­haf­ten Geist, noch für einen Sinn des Lebens Raum lässt. 
Wie­der müs­sen wir sagen: Die­se Welt­an­schau­ung dräng­te sich gera­de dem sozia­lis­ti­schen Den­ken auf; denn es war des­sen Auf­ga­be, sich der Beherr­schung der mate­ri­el­len Welt zuzu­wen­den. Es muss­te die mate­ri­el­len Din­ge erklä­ren. Es muss­te in ihre Art ein­ge­hen. Und da boten sich ihm die Metho­den des Mecha­nis­mus und Deter­mi­nis­mus an, und dies umso mehr, als es, aus den vor­hin genann­ten Grün­den, Angst hat­te vor soge­nann­ten Erklä­run­gen und Methoden. (…)

Die­se mate­ria­lis­ti­sche Welt­an­schau­ung hat aber eine nega­ti­ve Kehr­sei­te: Sie ent­wi­ckelt eine Vor­lie­be für das Quan­tum und unor­ga­ni­sche Lebensformen:
Der so ori­en­tier­te Sozia­lis­mus wird daher eine Vor­lie­be für die Mas­se … haben; er wird einen impe­ria­lis­ti­schen Zug an sich tra­gen und den “Klein­bür­ger” ver­ach­ten; er wird aber auch zu einer gewis­sen Ver­göt­te­rung des Staa­tes gelan­gen und dem Zen­tra­lis­mus zunei­gen; denn bei­de sind Pro­duk­te eines Den­kens, das nicht mit dem kon­kre­ten Men­schen, dem Indi­vi­du­um, der See­le, dem per­sön­li­chen Geist, dem orga­ni­schen Leben rechnet. 

Unschwer zu erken­nen, dass Ragaz 1929, als er die Vor­trä­ge hielt. mit die­sen Aus­füh­run­gen die Ent­wick­lung der noch jun­gen Sowjet­uni­on vor Augen hatte.

Am kom­men­den Sams­tag,  den 1. April, fah­ren wir mit der Erläu­te­rung sei­nes eige­nen Stand­punkts zwi­schen dia­lek­ti­schem Mate­ria­lis­mus und Idea­lis­mus weiter.

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