Wir haben gese­hen, dass aus Sicht des dialek­tis­chen Mate­ri­al­is­mus der men­schliche Geist nicht Schöpfer, son­dern lediglich Schöp­fung der Geschichte ist. Der ganze “Über­bau” — Recht, Moral, Philoso­phie, Kun­st, Reli­gion — erwächst aus und ändert sich mit dem jew­eili­gen wirtschaftlichen “Fun­da­ment”. Damit nahm Karl Marx eine radikale Gegen­po­si­tion zu seinem philosophis­chen Men­tor, G.F.W. Hegel ein, obwohl er dessen Prinzip des dialek­tis­chen Fortschre­it­ens der Men­schheit mit­tels “These — Antithese — Syn­these” über­nahm.

Hegel wird in der Geschichte der Philoso­phie als wichtig­ster Vertreter des sog. Ide­al­is­mus betra­chtet. Leon­hard Ragaz ist es wie schon bei der Charak­ter­isierung der zen­tralen Ideen von Marx gelun­gen, auch die Grun­dideen des Ide­al­is­mus kurz und präg­nant zusam­men­z­u­fassen, weshalb er hier aus­führlich zitiert sei:
Die ide­al­is­tis­che Auf­fas­sung geht von der Voraus­set­zung aus, daß der Geist als selbständige und schöpferische Kraft wie der Urhe­ber aller Wirk­lichkeit, so auch der der Geschichte sei. Diese ist sozusagen die mehr oder weniger vol­lkommene Ent­faltung ein­er Idee. Am kon­se­quentesten und mächtigsten tritt diese Denkweise bei den großen deutschen Ide­al­is­ten der klas­sis­chen Peri­ode, von Herder und Schiller bis zu Fichte und Hegel, auf und erre­icht in Hegel ihren Gipfel­punkt.

Hier strebt die Geschichte einem geisti­gen Ziele ent­gegen, und dieses bes­timmt ihren Gang von Anfang an. Dieses Ziel ist, um es kurz zu sagen, der göttliche Men­sch . Sein göttliches Wesen aber tut sich vor allem in vol­len­de­ter Frei­heit kund. Dieser Ide­al­is­mus ist ein großar­tiger Human­is­mus. Nach Hegel ist die Geschichte die Men­schw­er­dung Gottes, die man auch die Got­twer­dung des Men­schen nen­nen könnte, ein immer helleres und tief­eres Bewußtwer­den des Men­schen von seinem Got­twe­sen und darin immer vol­lkommenere Frei­heit.

Dabei ste­ht diese Ge­schichtsauffassung dur­chaus im Zeichen des Entwick­lungs­gedankens, der freilich nicht im dar­win­is­tis­chen Sinne ver­standen wird. Denn Entwick­lung ist hier Ent­fal­tung ein­er Idee. Und zwar nimmt diese Ent­fal­tung schon bei Fichte, und noch viel mehr bei Hegel die soge­nan­nte dialek­tis­che Form an, das bedeutet: die Ent­fal­tung vol­lzieht sich in ein­er Span­nung von Gegensätzen, die immer weit­er und immer höher hin­auf drängen, bis aus diesem Spiel zu­letzt die Geburt der höchsten und völligen Wahrheit ent­steht,

Der Men­sch aber hat in diesem Spiel weniger die Rolle eines Schöpfers als die eines Schaus­piel­ers (im höchsten Sinne des Wortes!), ein wenig auch die eines Zuschauers inne. Er blickt auf das wun­der­bare Dra­ma der sich in der Geschichte ver­wirk­lichen­den Idee, sieht in allem Wirk­lichen den Glanz der ewigen Ver­nun­ft aufleucht­en und spricht mit Hegel: „Alles Wirk­liche ist vernünftig, und alles Vernünf­tige ist wirk­lich.“ Es kommt ihm mehr darauf an, dieses Schaus­piel zu ver­ste­hen und zu erklären, als selb­st schaf­fend in dieses göttliche Werk einzu­greifen.

Man hat Hegel zu Recht vorge­wor­fen, dass in sein­er Geschicht­sphiloso­phie der Men­sch als lebendi­ge, tätige Indi­vid­u­al­ität zu einem blut­leeren Schemen, zu einem “Schaus­piel­er”, einem “Zuschauer” des geschichtlichen Dra­mas her­ab­sinkt. Marx hinge­gen wollte die “Schaus­piel­er” und “Zuschauer” wieder als Akteure in die geschichtliche Entwick­lung ein­brin­gen: Ein erwacht­es Pro­le­tari­at greift tätig wer­dend in den Lauf der Geschichte ein, nimmt sein Schick­sal selb­st in die Hand und sorgt nach einem siegre­ichen Klassenkampf und der Zwis­chen­phase der Dik­tatur des Pro­le­tari­ats dafür, dass mit der neuen klassen­losen Gesellschaft sich die Men­schheit das “Paradies auf Erden” erschafft.

Für Leon­hard Ragaz war klar, dass auch Marx die entschei­dende Schwäche im ide­al­is­tis­chen Welt­bild — das Her­aus­fil­tern der ure­igen­sten Indi­vid­u­al­ität jedes einzel­nen Men­schen — über­nahm und somit unge­wollt im wahrsten Sinne des Wortes unmen­schlichen Entwick­lun­gen Tür und Tor öffnete: Der “reale Sozial­is­mus” mit seinem tox­is­chen “Klassen­be­wusst­sein” und Schlächtern wie Stal­in, Mao, Pol Pot, usw. war die natür­liche Folge.

Welche Posi­tion nahm nun Ragaz angesichts der Posi­tion der ide­al­is­tis­chen Philoso­phie ein­er­seits und dem Marx­is­mus ander­er­seits ein?
Darauf gehen wir in der näch­sten Folge am Sam­stag, den 25. März ein.

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