Für Jesus und sei­ne Art, gegen Reli­gi­on und Chris­ten­tum, Kir­che, Theo­lo­gie und Fröm­mig­keit …, schreibt Ragaz in sei­ner Auto­bio­gra­phie “Mein Weg” im Zusam­men­hang mit sei­ner Bas­ler Erfah­rung zum “Reich Gottes”.

Eine pro­vo­zie­ren­de Aus­sa­ge eines Man­nes, der sel­ber Theo­lo­ge war! Wie ist die­ser Gegen­satz gemäss Ragaz zu verstehen?

Hil­fe bringt ein Blick in sein Buch “Jesus”, Teil sei­nes gros­sen Werks “Die Bibel. Eine Deu­tung”. Hier ein paar Aus­zü­ge aus dem Kapi­tel “Die reli­giö­se Kor­rup­ti­on”. Er spricht dar­in von
der Kri­tik Jesu an der Reli­gi­on in Gestalt von Kir­che und Fröm­mig­keit. Die­se sucht nach Macht. Denn sie kann ihrem Wesen nach sich nicht selbst genü­gen. Sie will bekeh­ren.  … Es ist nicht der natür­li­che und berech­tig­te Drang, den Men­schen die Wahr­heit zu brin­gen, sei’s den Ein­zel­nen, sei’s den Gemein­schaf­ten, son­dern das Bedürf­nis, sie für die eige­ne Sache zu gewin­nen. Die­se wird natür­lich für die Sache Got­tes gehal­ten oder doch als sol­che ausgegeben. (…)

Damit hängt der Kon­kur­renz­geist der Reli­gio­nen und Gemein­schaf­ten zusam­men. … Wo Kon­kur­renz ent­steht, han­delt es sich stets irgend­wie um Besitz; denn das Sein steht nie in Kon­kur­renz, nur das Besit­zen. Oder bes­ser: Gott selbst steht nie in Kon­kur­renz, son­dern nur die Reli­gi­on. … Aller Besitz aber führt zum Streit. Und aller Besitz macht trä­ge. Er ruht auf dem Vor­han­de­nen aus.
Die­ser Macht­be­sitz der Reli­gi­on führt zur Bevor­mun­dung derer, die in ihren Macht­be­reich fal­len. Sie müs­sen einem Bekennt­nis, einem Dog­ma unter­tan sein. Man darf nicht den Geist frei wal­ten las­sen; denn der könn­te über die­sen Kreis hin­aus­füh­ren. … Sie hat Angst vor dem leben­di­gen Gott.

Wenn der leben­di­ge Gott durch das Gewis­sen zu den Ein­zel­nen oder zu den Gemein­schaf­ten, vor allem der Kir­che spricht und sie zum Gehor­sam auf­for­dert, dann greift man zu theo­lo­gisch-dog­ma­ti­scher Refle­xi­on oder zu der schrift­ge­lehrt inter­pre­tier­ten Bibel, und man fin­det dar­in immer eine Mög­lich­keit,  Gott zu entrinnen.

Ragaz spart nicht mit dem Vor­wurf von Scheinheiligkeit:
Es ist ja so, dass gera­de die Reli­gi­on, in indi­vi­du­el­ler wie kirch­li­cher Aus­prä­gung, tut, als ob sie nur Gott die­ne, nur nach Gott fra­ge, wäh­rend sie in Wirk­lich­keit mehr als die Welt nach der Welt trach­tet, nach der Welt giert. Das hängt wie­der damit zusam­men, dass die Reli­gi­on von Gott gelöst, dass sie etwas Äus­se­res, dass sie eine Last ist. Man ist durch sie schein­bar von der Welt gelöst, aber doch nur for­mell, nicht wirk­lich, nur äus­ser­lich, nicht inner­lich, nur in Form von Ver­bot, nicht in Form von Liebe.

Und noch ein letz­tes Bei­spiel für die har­sche Ragaz’sche Kritik:
Reli­gi­on und Kir­che legen ein gros­ses Gewicht auf die Über­lie­fe­rung. An sich gewiss nicht mit Unrecht. Auch im Rei­che Got­tes wal­tet Zusam­men­hang. Aber nun wird die­ses Erbe zum trä­gen Besitz und damit zum Schutz gegen den leben­di­gen Gott. Man schmückt die Grä­ber der toten Pro­phe­ten (von denen man lebt) und stei­nigt die leben­den. Man beruft sich auf Luther, Cal­vin, viel­leicht auch Zwing­li und rühmt die Theo­lo­gie der Refor­ma­to­ren; aber wo der leben­di­ge Gott mit Gegen­wart­s­of­fen­ba­rung und Gegen­warts­for­de­rung auf­tritt, da geht man ihm aus dem Wege (…)

So ent­steht jene Sin­nes­täu­schung, von der Kier­ke­gaard redet, dass der Schein erregt wer­de, als sei das Chris­ten­tum des Neu­en Tes­ta­men­tes da, wäh­rend es doch nicht da sei. Die­se Sin­nes­täu­schung hat Jesus zer­schla­gen. Er zer­schlägt sie immer wie­der. Er hat den Weg zu Gott nicht nur von der Welt, son­dern auch von der Reli­gi­on frei gemacht.

Hap­pi­ge Kri­tik, — aber ist sie heu­te so noch gerecht­fer­tigt? Der birsfälder.li-Schreiberling ent­hält sich man­gels Erfah­rung eines Urteils: Er trat schon vor Jahr­zehn­ten aus der Kir­che aus, um sei­ne eige­nen Wege zu gehen … Tat­sa­che ist, dass Bewe­gun­gen wie die Befrei­ungs­theo­lo­gie (Bei­spiel: Leo­nar­do Boff) oder die Schöp­fungs­spi­ri­tua­li­tät (Bei­spiel: Mat­thew Fox) sich aus­ser­halb der eta­blier­ten Kir­chen enwickelten.

Ein wich­ti­ger Grund für die Fun­da­men­tal­kri­tik von Ragaz ist sei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Sozia­lis­mus, die eben­falls in Basel ihren Anfang nahm.

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Sams­tag, den 11. Febru­ar.

An ande­ren Seri­en interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hei­ner Koech­lin / Simo­ne Weil / Gus­tav Mey­rink / Nar­ren­ge­schich­ten / Bede Grif­fiths / Graf Cagli­os­tro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­wo­che und Donald Trump / Die Welt­wo­che und der Kli­ma­wan­del / Die Welt­wo­che und der lie­be Gott /Leben­di­ge Birs / Aus mei­ner Foto­kü­che / Die Schweiz in Euro­pa /Die Reichs­idee /Voge­sen Aus mei­ner Bücher­kis­te / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­ba­cher  / A Basic Call to Con­scious­ness / Leon­hard Ragaz /

Die Reichsidee 72
Aus meiner Fotoküche 98

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.