Die Reformierten der Stadt Basel waren damals in zwei Lager geteilt, die sich gegenseitig konkurrenzierten: die “Positiven”, pietistisch orientiert, und die “Freisinnigen”, die “Reformer”, Vertreter eines liberal orientierten Christentums.
Dieses Parteiwesen, obschon innerlich veraltet und darum erstarrt, beherrschte damals doch das kirchliche Leben ganz und gar. Es war bis zum kleinsten in zwei Lager aufgeteilt. Alles Tun des Pfarrers trug den Parteistempel, von der Taufe bis zur Beerdigung. Alles darum auch den Charakter der Konkurrenz. (…)
Weil die Positiven über die unvergleich zahlreicheren großen Geldbeutel verfügten, so hielten sich die Armen vorwiegend an ihre Pfarrer, ließen auch bei ihnen taufen, die Kinder unterrichten, trauen, beerdigen, auch wenn sie ihnen im übrigen noch so ferne standen. Die ganze «Liebestätigkeit» wurde von hier aus durch Heuchelei vergiftet.
Die Anfrage an Ragaz war von seiten der “Reformer” erfolgt. Die Überlegungen seitens Ragaz, die Berufung auf die Münsterkanzel anzunehmen:
Eine mehr auf der Oberfläche liegende Frage ist, wieso ich dazu kam, mich trotz meiner Unabhängigkeit von der theologisch-kirchlichen Parteikonstellation doch von den Reformern an eine solche Stelle wählen zu lassen. Die Antwort ist leicht: Es war meine damalige Einstellung, daß in jedem der beiden Lager Menschen sein müßten, welche denen im andern nahe stünden, sie verstünden und so die notwendige Verbindung zwischen ihnen herstellten. Und es schien mir gegeben, daß ich im Lager des «Freisinns» stehe. Denn dieser mußte es, meinte ich, seinem Wesen nach erlauben, daß Menschen zu ihm gehörten, welche theologisch anders dächten als er. (…)
Ich erinnerte die Basler Delegation nachdrücklich an diese meine Einstellung. Aber sie ließ sich dadurch nicht abhalten. Gerade ein solcher Mann, versicherten sie, sei ihnen recht. Sie sagten damit die Wahrheit. Denn sie hofften, daß ein solcher Mann vielleicht in der Lage sei, Leute aus dem andern Lager in das eigene zu ziehen; im übrigen aber dachten sie, man werde den neuen Mann, der ja noch so jung sei, schon bei der Stange zu halten wissen.
Wir hatten einander damit gründlich mißverstanden. Denn ich meinte es mit der Überwindung des Parteiwesens sehr ernst.
Konflikte waren so vorprogrammiert. Ragaz suchte, Brücken zwischen den beiden Lagern zu bauen. Das hatte zur Folge, dass seine Predigten zwar immer mehr von “Positiven” besucht wurden, während die “Reformer” immer zahlreicher ausblieben, sodass das Münster sich bedenklich zu leeren anfing. Das führte schliesslich sogar dazu, dass Ragaz sich zu einem “verzweifelten Entschluss” durchrang:
Ich reichte bei dem «freisinnigen» Teil der Kirchenpflege der Münstergemeinde meine Demission ein. Darüber erschrocken, behielt die Kommission die Sache aber noch für sich; auch versuchte sie, mich von diesem Schritte abzuhalten. Da geschah etwas, das ich stets als Wunder empfunden habe: als ich das nächstes Mal wieder auf die Kanzel stieg, hatte sich eine stattliche Zuhörerschaft eingefunden. Und der Besuch blieb von da an stets erfreulich. (…) Ich war und bin genötigt, an eine durch Gott selbst verursachte Wendung zu glauben, die zu meiner Berufung gehörte.
Dieses tief empfundene Gefühl, einer Berufung folgen zu müssen, führte ihn auch dazu, seinen Predigtstil radikal zu ändern, — weg von der “erbaulichen, schönen Predigt”, hin zu einer Predigt ohne jeden Kanzelstil, im Stil des Alltags, in der es galt, realistisch von realistischen Dingen zu reden. (…) Jetzt lag mir jeweils nur eines an: das zu sagen, was Gott mich sagen heisse. Das war durchaus demütig gemeint, im Sinne des Gehorsams und der Wahrhaftigkeit, nicht etwa im Sinne einer schwärmerischen Inspiration. Es bedeutete aber einen schweren Kampf. Denn nicht nur fehlte mir dafür die notwendige Voraussetzung einer Gemeinde, mit der ich in enger Verbindung gestanden wäre, sondern es fehlt mir auch noch die bestimmte Sache.
Diese “Sache” sollte er allerdings in nicht allzu ferner Zukunft finden, — und ihn damit für den “Freisinn” vollends unmöglich machen …
Doch zuvor erlebte Leonhard Ragaz in Basel etwas, was er als “die Wendung meines Lebens, die grösste, entscheidenste desselben, nennen” musste. Sie erwuchs aus einer noch tieferen Krise jenseits des religiösen Parteiengeplänkels und ging, wie er schreibt, “ins innerste Leben. Ich hatte in Chur mit großer Kraft und Zuversicht Gott verkündigt. Es war eine reiche Flut, von der meine Seele lebte und die nur ausnahmsweise eine Ebbe erfuhr. Und nun wurde die Ebbe aus der Ausnahme zur Regel. Nicht daß ich den Zusammenhang mit Gott, oder wie man sagt, den Glauben an Gott, je ganz verloren hätte — ein Heuchler bin ich nie gewesen -, aber die alte Lebendigkeit und Kraft war nicht mehr da. Auch der Ausblick auf die Welt verlor sich in bedrückende Perspektiven. Ich wanderte durstig und müde durch Wüstensand.
Da geschah die grosse Wendung: …”
Darüber mehr am kommenden Samstag, den 28. Januar!
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