Hier also des Rätsels Lösung: Der Mann, von dem Fritz Brupbacher meinte, er könne “für die Sache” — ein neue Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Not — vielleicht zwar sterben, aber nicht leben, war der Theologe Leonhard Ragaz, geboren am 28. Juli 1868 in Tamins, gestorben am 6. Dezember 1945 in Zürich.
Brupbacher hat sich getäuscht: Leonhard Ragaz lebte und kämpfte für eine Vision, die in Vielem noch radikaler und grösser war als jene des “Revolutionärs zwischen allen Stühlen”. Und Ragaz sass noch mehr zwischen den Stühlen als der streitbare Zürcher Arzt. Das hatte zur Folge, dass er sowohl in der Politik als auch der Theologie eine Aussenseiterposition einnahm und vielleicht deshalb viel stärker in Vergessenheit geraten ist als etwa sein theologischer Gegner Karl Barth. Völlig zu Unrecht: Das, wofür Ragaz kämpfte, war und ist revolutionär schlechthin, und es ist kein Zufall, dass er in eidgenössischen bürgerlichen Kreisen mehr als einmal zum bestgehassten Mann wurde: Leonhard Ragaz kämpfte für das Reich Gottes.
Diese Aussage dürfte wahrscheinlich bei mehr als einem birsfaelder.li-Leser oder einer Leserin ein etwas mulmiges Gefühl — vielleicht sogar verbunden mit Abwehr — auslösen. Reich Gottes !? Was soll man sich darunter vorstellen? Wolke sieben mit Harfenklängen und Engelschören?
Nun, natürlich nicht. Vor 2000 Jahren hat ein anderer Revolutionär als erster vom Reiche Gottes gesprochen, immer wieder und in immer neuen Abwandlungen und Zusammenhängen. Seither wird heftig diskutiert und darüber gestritten, was Jeshua ben Joseph, der zu Jesus Christus wurde, damit wohl gemeint haben könnte:
Es liegt dem birsfaelder.li-Schreiberling selbstverständlich fern, sich als Nichttheologe und einfacher Zeitgenosse in diese intensiven theologischen Diskussionen einmischen zu wollen, — aber er traut sich zu, die “Reich Gottes-Idee”, wie sie Ragaz vertrat, in dieser neuen Serie einigermassen korrekt vorzustellen.
Leonhard Ragaz schöpfte dafür — abgesehen von der Bibel — in vielen Quellen, und seine Auffassung des Reiches Gottes wurde geprägt — oft auch in harter Auseinandersetzung — durch viele Zeitgenossen und ‑genossinnen, Denker und Denkerinnen. Eine kleine, bei weitem nicht vollständige Auswahl solcher Persönlichkeiten findet sich im Header. Sie seien hier von links nach rechts kurz vorgestellt:
Karl Marx, G.F.W. Hegel, Karl Barth, Christoph Blumhardt, Margarete Susman, Gustav Landauer, Leo Tolstoi, Immanuel Kant.
Der Schreiberling ist im birsfaelder.li in anderem Zusammenhang immer wieder mal kurz auf Ragaz eingegangen, z.B. hier, hier, hier und hier. In den kommenden Folgen wollen wir uns etwas vertrauter mit diesem herausragenden Kämpfer machen, indem wir einen Blick auf seine Herkunft werfen, — und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 6. November.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness