Als Mitglieder der Sozialistischen Jugend sahen sich Heiner Koechlin und sein Bruder Felix schon bald mit den tiefen Gräben konfrontiert, welche die Linke nach der Machtergreifung Stalins spalteten.
Die Geschichte der brutalen Niederschlagung des Aufstandes der Kronstädter Matrosen 1921 gegen die bolschewistische Machtmonopolisierung war für Koechlin der entscheidende Auslöser für seine immer kritischere Haltung gegenüber dem Kommunismus, insbesondere in dessen stalin’scher Ausprägung. “Nieder mit Hitler und Stalin! Es lebe die sozialistische Revolution”, riefen die Brüder anlässlich einer 1. Mai-Kundgebung zusammen mit ihren Freunden der Sozialistischen Jugend. “Hinaus mit den Schädlingen aus der Arbeiterbewegung”, tönte es aus der kommunistischen Jugendgruppierung zurück.
Also Unterstützung der Sozialdemokraten! Anlässlich der Basler Gesamterneuerungswahlen 1935 fuhren sie mit einem kleinen Lastwagen durch die Quartiere und brüllten die Namen der sozialdemokratischen Kandidaten. Gute alte Zeit 😉 Der Erfolg blieb dank einer Listenverbindung mit den Kommunisten nicht aus, doch Koechlin dazu später: “Das rote Basel, für das wir so eifrig geworben hatten, war eine grosse Enttäuschung. An der Lage der Arbeiterschaft änderte sich kaum etwas.”
Damals wurde er auch mit dem Schicksal der vielen politischen Flüchtlinge konfrontiert. Als ein schockierendes Beispiel erlebte er 1939 die Geschichte eines jüdischen Flüchtlings, der wegen unerlaubten Hausierens mit Bleistiften verhaftet worden war. Angesichts der drohenden Auslieferung versuchte er sich in der Arrestzelle im Badischen Bahnhof das Leben zu nehmen, indem er sich die Handgelenke aufschnitt, was ihm aber misslang. Man nahm ihm drei Franken für die Reinigung der Zelle ab und schaffte ihn umgehend aus. Solche Erfahrungen liessen Koechlin noch 1979 harsch urteilen: “Einzelne Persönlichkeiten haben sich für die Flüchtlinge eingesetzt. Behörden, Organisationen und Kirchen haben alle versagt.”
Im gleichen Jahr endete auch seine Mitgliedschaft bei der Sozialistischen Jugend. Basler Kommunisten verschrien die beiden Brüder an einer Versammlung in Zürich als Polizeispitzel, worauf sie kurzerhand aus dem Saal geworfen wurden. “Das Enttäuschende dabei war, dass wir von unseren scheinbar guten Freunden aus Basel, mit denen wir frohgemut nach Zürich gefahren waren, “im Namen der Einheit” im Stich gelassen wurden.”
Damit begann für Koechlin der Weg zum Anarchismus und zu den “heimatlosen Linken”.
“Dieses menschliche Wärme ausstrahlende Buch machte mich zum Anarchisten”, schrieb Koechlin in seinen Memoiren. Es handelte sich um die Lebenserinnerungen von Pjotr Kropotkin, dem russischen adeligen Geographen, der dank einem Kontakt mit der libertären Juraföderation in Neuchâtel zum Anarchisten geworden war und heute vor allem dank seinem Werk “Gegenseitige Hilfe in Tier- und Menschenwelt” — einer Widerlegung der Thesen des Sozialdarwinismus — in der öffentlichen Erinnerung geblieben ist.
Dazu kam die dramatische Episode
des kurzen anarchistischen Sommers 1936 im Spanischen Bürgerkrieg, der vor allem auf Befehl Stalins durch kommunistische Unterdrückung ein jähes Ende fand. Koechlin widmete ihm übrigens viele Jahre später die historische Studie “Die Tragödie der Freiheit”. Eine spannende filmische Rückschau mit vielen berührenden Interviews überlebender Anarchisten findet sich hier.
Entscheidend war aber die direkte persönliche Begegnungen mit italienischen Anarchisten wie Luigi Bertoni und die Auseinandersetzung mit “heimatlosen Linken” wie Manès Sperber oder Arthur Koestler, die ihren ureigensten Weg ausserhalb von Parteidoktrinen gingen.
Im 1923 vom Kanton für die Arbeiterschaft gebauten Volks-haus an der Rebgasse lernte Koechlin schliesslich jene Freun-de kennen, die ihn über viele Jahre begleiten würden, allen voran der Emigrant Ignaz Aufseher, der nach einer langen Odyssee aus Ostgalizien über Deutschland, Spanien und Frankreich 1939 schliesslich als Flüchtling in Basel landete. Mit Aufseher sollte er einige Jahre nach dem 2. Weltkrieg das bekannte Bücherantiquariat am Spalenberg aufbauen.
Es konnte nicht ausbleiben, dass er angesichts seiner aus bürgerlicher Warte dubiosen Kontakte früher oder später ins Visier der Bundes-polizei geriet. Bei einer Aktion gegen einen Vortragsabend des französischen Rechtsextremisten und Antisemiten Charles Maurras in Basel auf Einladung der Basler Société d’Etudes françaises griff die Polizei ein, und Koechlin hatte seinen ersten Eintrag in der Staats-schutzfiche, wie er 1989 anlässlich der Fichen-Affäre zur Kenntnis nehmen durfte. Es sollte nicht der einzige bleiben.
Als sich 1944 der zweite Weltkrieg dem Ende näherte, sahen die Koechlin-Brüder und ihre Freunde eine neue Zeit der Freiheit aufdämmern, und sie verfassten eine Flugschrift mit dem Titel “Die kommende Revolution”. Sie ist erfüllt von jugendlichem Enthusiasmus — Koechlin war 25 — und fasste nichts weniger als eine radikal erneuerte Gesellschaft auf sozialer Grundlage ins Auge, doch auf föderalistischer und freiheitlicher Basis (hier ein paar wenige Auszüge).
Der Aufruf endet mit einer Absage an jeglichen Zwang: “Der Aufbau des Sozialismus braucht einen neuen Menschen, der sich von vielen Vorurteilen der bürgerlichen und autoritären Zeit freigemacht hat. Dieser Befreiungsprozess geht nicht automatisch vor sich, er kann nicht von oben angeordnet werden. Er findet nur statt in der freien geistigen Auseinandersetzung. Wir müssen daher konsequent einstehen für die Freiheit der Rede, der Schrift, der Wissenschaft, der Religion, für die Versammlungs- und Organisationsfreiheit.”
Auf dieser Grundlage wollte Heiner Koechlin sein Leben und seinen Kampf um soziale Gerechtigkeit aufbauen. Darüber mehr in der nächsten Episode.
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