Bild links oben: Pariser Kommune 1871, über die Koechlin dissertierte. Links unten: Kongress der Antiautoritären Internationale in Basel 1869, Rechts oben: Anarchistinnen während des Spanischen Bürgerkriegs 1936, Rechts unten: Nestor Machno, Initiator des anarchistischen Experiments in der Ukraine 1917–21
Wer bis in die 90-er Jahre am Spalenberg vorbeikam, konnte ab und zu einen grossgewachsenen, hageren Mann mit Beret und nachdenklich-ernstem Gesicht antreffen: Heiner Koechlin betrieb dort sein stadtbekanntes Bücherantiquariat. Ich lernte Koechlin allerdings nicht als Antiquariatsbesucher kennen, sondern als Herausgeber einer kleinen, mit der Schreibmaschine getippten Zeitschrift namens “Akratie”*. Darin fanden sich einerseits scharfsinnige Kritiken zum real existierenden Sozialismus — sei es in der Sowjetunion, im Ostblock oder auf Kuba, andererseits aber auch viele Artikel zu freiheitlichen sozialistischen Alternativen. Und vor allem: Hier schrieb ein unabhängig denkender Kopf jenseits jeglicher Parteidogmen, weshalb ich die Akratie damals in den 70er-Jahren auch regelmässig kaufte.
Das im Jahre 1949 gegründete Buchantiquariat Koechlin existiert nicht mehr: Nach dem Tod Koechlins 1996 wurde es zwar noch weitergeführt, doch vor zwei Jahren schloss es seine Türen definitiv. 2013 publizierte hingegen der Friedrich Reinhardt-Verlag das Werk der Historikerin Isabel Koellreuter und der Kulturwissenschafterin Franziska Schürch: “Heiner Koechlin 1918 — 1996. Porträt eines Basler Anarchisten”. Die beiden sorgfältig editierten Bände “Porträt” und “Schriften” ermöglichen einen spannenden Einblick in das Leben und Schaffen eines der eindrücklichsten Basler Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Meine kleine birsfaelder.li-Reihe setzt sich zum Ziel, Heiner Koechlin und sein politisches Wirken der geneigten Leserin und dem geneigten Leser etwas näher zu bringen und stützt sich dabei mehrheitlich auf dieses Werk ab.
Bevor wir uns dem schriftstellerischen Wirken von Koechlin zuwenden, lohnt sich ein Blick auf seinen Werdegang zum politisch hellwachen Erwachsenen.
Heiner Koechlin wurde in ein sozial zutiefst engagierte Familie hineingeboren. Sein Vater, Eduard Koechlin, war Arzt. Als Mitglied der Sozialdemokraten und als langjähriger Grossrat wählte er für seine ärztliche Tätigkeit bewusst Arbeiterquartiere aus, zuerst das Untere Kleinbasel, dann Kleinhüningen. Kein besonders attraktiver Wohnort: “Lange hohe Häuserreihen, Fabrikkamine, grosse Gaskessel, unangenehmer Geruch chemischer Produkte, dies sind die äusseren Kennzeichen des Arbeiterquartiers Klybeck-Kleinhüningen.” Dazu kamen die grossen Hafenanlagen, wo ungelernte Arbeiter ohne feste Arbeitsbedingungen schufteten. Koechlin in seinen Lebenserinnerungen: “Das Kleinbasel zwischen Ciba und Wiese war (mit) einem Getto zu vergleichen, dessen Bewohner sich kaum bis ins obere Kleinbasel, geschweige denn ins Grossbasel wagten. Unterhalb dieses Gettos gab es dann noch ein zweites, das sogenannte Negerdörflein, eine … Barakkensiedlung, die noch von einer ärmeren Schicht bewohnt war.”** — Tempi passati — doch es sind noch keine hundert Jahre her …
Aber nicht nur sein Vater, auch seine Mutter Helene von Orelli und deren Schwester Mathilde versuchten mittels einer Sozialen Arbeitsgemeinschaft namens “Ulme” der Arbeiterschaft neue kulturelle Perspektiven zu eröffnen und sie mittels konkreter Nachbarschaftshilfe zu unterstützen. Solchen Projekten lagen die Gedanken des religiösen Sozialismus zugrunde, der in der Schweiz am prominentesten vom Theologen Leonhard Ragaz vertreten wurde.
Eine erste Begegnung mit dem Thema Klassenkampf und soziale Spannungen hatte Koechlin schon in der Primarschule, als die Hinrichtung der beiden Anarchisten Sacco und Vanzetti in den USA 1927 auch in der Schweiz heiss diskutiert wurde. Nach einer Grossdemonstration mit 12’000 Teilnehmern (!) auf dem Barfüsserplatz explodierte eine Bombe, die das Tramhaus zerstörte und neben einigen Schwerverletzten einem Billeteur das Leben kostete. Die Bürgerlichen klagten daraufhin die Gewerkschaften und die linken Parteien an, diese hinwiederum vermuteten eine gezielte Provokation faschistischer Akteure. Das Attentat ist bis heute ungeklärt geblieben.
Das Sacco/Vanzetti-Drama fand übrigens mehrfach Eingang in Theater und Film. Folksänger Woody Guthrie widmete ihnen mehrere Balladen, Ennio Morricone komponierte den Soundtrack zu “Sacco e Vanzetti“und Joan Baez sang darin ihre zum Klassiker gewordene Hymne “Here’s to you”:
“Here’s to you, Nicola and Bart
Rest forever here in our hearts
The last and final moment is yours
That agony is your triumph.”
Eine weitere Erfahrung war der Ausruf “Nieder mit den Sozialfaschisten!” vor dem Hause der Koechlins während einer Kundgebung des bolschewistisch orientierten Gewerkschaftsteils: Stalin hatte deklariert, dass die Sozialdemokraten lediglich als linker Flügel des Faschismus zu betrachten und deshalb zu bekämpfen seien. Als Sohn eines sozialdemokratisch orientierten Vaters geriet auch Heiner im eher kommunistisch geprägten Quartier in die Rolle des Aussenseiters.
Und diese Rolle sollte ihn auch weiterhin begleiten: In der Primarschule war er der “Doktorsohn, mit dem man verkehrte, obwohl er einer anderen Welt angehörte”. Im Realgymnasium an der Rittergasse hingegen mutierte er im bürgerlichen Umfeld zum “Roten”, was ihn durchaus mit Stolz erfüllte. “So begann”, halten Koellreuter und Schürch fest, “Heiner Koechlin als Jugendlicher der Rolle des Aussenseiters Vorzüge abzugewinnen und sie als Teil seines Selbstbildes anzunehmen.”
Seine eigentliche politische Erweckung erlebte er anlässlich des Dramas um das Rote Wien, das er und sein Bruder Felix gebannt verfolgten. Die Sozialdemokraten hatten versucht, mittels einer Umverteilungspolitik eine sozial gerechte Musterstadt aufzubauen. In den Februarkämpfen 1934 rissen die Austrofaschisten unter Engelbert Dollfuss mit Gewalt die politische Macht an sich. So endete die sozialdemokratische Kommunalpolitik, — und Heiner Koechlin trat zusammen mit seinem Bruder der sozialistischen Jugendbewegung in Basel bei. “Damit erschloss sich für mich eine neue Welt politischer Aktivität, die meinem Ideal sozialer Gleichheit entsprach”.
Diesen politischen Aktivitäten wollen wir uns in der nächsten Folge zuwenden.
* Der Begriff “Akratie” wurde durch den Soziologen Franz Oppenheimer geprägt. Eine Akratie ist nach Oppenheimer „das Ideal einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlösten Gesellschaft“.
** blaue Texte sind Auszüge aus Koechlins nicht veröffentlichter Autobiographie “Am Rande des Geschehens”, wie sie im Werk von Koellreuter und Schürch zitiert werden.
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Hans-Jörg Beutter
Mai 30, 2020
Doppelt beeindruckend!
Zum einen, dass dieser standhafte »Selbstdenker« irgendwelche öffentliche Würdigung erfährt – und dass sich ausgerechnet im birsfelder.li jemand dieser hochspannenden Persönlichkeit (rein subjektiv/parteilich: Resilienz vom Feinsten) widmet: eine rare Trouvaille!