Kurz vor dem 1. August: Der birsfaelder.li-Schreiberling holt sich in der Buch­hand­lung eines guten Bekan­nten das neue sehr schön gestal­tete und illus­tri­erte Buch “Die Wahrheit hin­ter dem Mythos. Die Entste­hung der Schweiz” des Basler His­torik­ers und Bur­gen­forsch­ers Wern­er Mey­er und des ehe­ma­li­gen Obwald­ner Staatss­chreibers Ange­lo Garovi.
Mit dem Titel ist der Anspruch des Werks schon deklar­i­ert: Es soll darstellen und zusam­men­fassen, was die Geschichtswis­senschaft uns heute nach jahrzehn­te­langem Zusam­men­tra­gen ein­er unüberse­hbaren Menge von Spezial­forschun­gen über das 13./14. Jahrhun­dert im Alpen­raum zu erzählen hat. Und sie machen auch gle­ich klar, dass es den leg­endären Geschicht­en vom Rütlis­chwur, Wil­helm Tell und Bur­gen­bruch an den Kra­gen geht. So schreiben die bei­den Autoren in der Ein­leitung:

Der oft zitierte Begriff “Son­der­fall Schweiz” lässt sich — soweit er wirk­lich zutrifft — auf ver­schiedene Weise definieren und sowohl auf die Ver­gan­gen­heit  als auch die Gegen­wart anwen­den. Schon im Spät­mit­te­lal­ter wurde das het­ero­gene und lockere, aber dauer­hafte und elastis­che Bünd­nis­ge­flecht der Eidgenossen­schaft als etwas Beson­deres wahrgenom­men, wen­ngle­ich mit unter­schiedlich­er Bew­er­tung: in der Schweiz mit Selb­st­ge­fäl­ligkeit — man hielt sich für Gottes auser­wähltes Volk — im Aus­land teils mit Ver­ach­tung und Entrüs­tung, teils mit Bewun­derung.
Unter dem Ein­druck der feind­seli­gen Urteile von Auswär­ti­gen stell­ten human­is­tisch gebildete Geschichtss­chreiber in der Eidgenossen­schaft die Frage nach dem Ursprung des selt­samen Schweizer­bun­des und schufen so seit etwa der Mitte des 15. Jahrhun­derts ein stets sich erweit­ern­des Bild von dessen Anfän­gen; ein Bild, das vor allem der Recht­fer­ti­gung des “Son­der­falls” diente und die Grund­lage für einen in der Inner­schweiz ange­siedel­ten Grün­dungsmythos bildete.

Die von den Chro­nis­ten des 15./16. Jahrhun­derts in die Welt geset­zte “Befreiungssage” vom Ursprung der Eidgenossen­schaft prägt das landläu­fige Geschichts­bild bis heute (…) Das Beson­dere am schweiz­erischen Grün­dungsmythos … beste­ht darin, dass er noch immer nicht über­all als Mythos wahrgenom­men wird, son­dern für viele als ereignis­geschichtlich­er Tat­sachen­bericht gilt. Für die Glaub­würdigkeit wer­den real existierende Örtlichkeit­en ins Feld geführt, die als Schau­plätze der ver­meintlichen Geschehnisse gel­ten (z.B. Rütli, Hohle Gasse, Bur­gru­inen, etc.) (…)

Nicht zu unter­schätzen ist das poli­tisch-ide­ol­o­gis­che Gewicht des Mythos. Das Beken­nt­nis zur His­tor­iz­ität Tells, die Deu­tung des Bun­des­briefes von 1291 als “Grün­dung­surkunde” oder der Glaube an die geheime Ver­samm­lung auf dem Rütli (selt­samer­weise oft gestützt auf den Wort­laut von Schillers “Tell” aus dem Jahr 1804!) gel­ten als Voraus­set­zung für vater­ländis­che Gesin­nung. Wer nicht an Tell oder den Rütlis­chwur glaubt, läuft Gefahr, von Kreisen, die sich für patri­o­tisch hal­ten und glauben, “schweiz­erische Werte” vertei­di­gen zu müssen, als “schlechter Schweiz­er” dif­famiert zu wer­den. 

Der Zufall wollte es, dass der Schreiber­ling am gle­ichen Tag auf die (vorge­zo­gene) 1. August-Rede des inofiziellen SVP-Sprachrohrs Roger Köp­pel stiess, welche die obige Behaup­tung aufs Tre­f­flich­ste illus­tri­ert. Zwar sprach der Welt­woche-Chefredak­tor von der Tell-Geschichte und dem Rütlis­chwur dur­chaus als einem Mythos, um sie dann aber trotz­dem als geschichtliche Tat­sache darzustellen. Das tönte dann etwa so:
1. August, Som­mer. Warum eigentlich der erste August? Dieses Datum geht zurück, ver­liert sich in den Nebelschwaden des Spät­mit­te­lal­ters. Damals kamen zusam­men am Vier­wald­stät­tersee, gemäss der Sage auf dem Rütli, die Schwurgenossen, die Landleute aus den Kan­to­nen Uri, Schwyz und Unter­walden. Sie haben sich getroffen. Sie haben noch einen schriftkundi­gen Klerik­er, einen Pfar­rer her­beige­zo­gen, weil sie sel­ber nicht schreiben kon­nten. Sie haben gesagt, wir müssen zusam­men­ste­hen, wir müssen uns wehren, wir wer­den bedrängt, wir wer­den bevogtet, geknechtet und her­aus­ge­fordert von ambi­tion­ierten Fürsten, die da ver­suchen, das altherge­brachte Recht des Heili­gen Römis­chen Reich­es Deutsch­er Nation in ihre Hände zu nehmen und gegen uns, die Alteinge­sesse­nen, in Anschlag zu brin­gen. Und gegen diese präpo­ten­ten nass­forschen Poten­tat­en, allen zuvorder­st die Hab­s­burg­er unter dem Rudolf, unter dem sehr ehrgeizigen Thron­in­hab­er.

Da haben die Eidgenossen gesagt: „Wir schwören uns Bei­s­tand in arglistiger Zeit. Wir grün­den eine Eidgenossen­schaft des Rechts, — ganz wichtig, des Rechts! — nicht eine Anar­chotruppe, nicht die Jakobin­er- und Guil­loti­nen­schweiz­er, Guil­lotinenei­dgenossen sozusagen „avant la let­tre“, die da die Rev­o­lu­tion ver­anstal­ten woll­ten. Nein, es war eine kon­ser­v­a­tive Zusam­men­schlies­sung, eine Schwurge­mein­schaft, in kon­ser­v­a­tiv­er Absicht. Es ging darum, das altherge­brachte Recht zu schützen und vor allem auch den Schweiz­ern das ihnen vom Kaiser damals gewährte Recht zu bewahren, sie mit ihren eige­nen Land­sleuten, ihren eige­nen Richtern dieses Recht auch anwen­den kön­nen auf ihre eige­nen Ver­hält­nisse. (…)

Zur dama­li­gen Zeit ein rev­o­lu­tionär­er Akt, ein avant­gardis­tis­ch­er Akt, ein zukun­ftsweisender Akt, und das Unglaubliche ist, meine Damen und Her­ren, dass sich eine fast unun­ter­broch­ene Lin­ie von diesem Zeu­gungs­da­tum der Eidgenossen­schaft bis heute ver­fol­gen lässt, eine Kon­ti­nu­ität, die (macht, dass) diese Schweiz nicht etwas Gewolltes, nicht etwas Kon­stru­iertes, nicht etwas Her­beigewür­feltes ist, son­dern etwas organ­isch Gewach­senes, ein Organ­is­mus, eine Tra­di­tion, ein Ver­fahren, eine Meth­ode, eine Staats­form, die sich da her­auskristallisiert hat und die über­lebt hat, und in dieser Staats­form ist die Weisheit der Jahrhun­derte einge­gan­gen, und deshalb, meine Auffas­sung, sollte man all jenen sehr skep­tisch gegenübertreten, die meinen, die Schweiz neu erfin­den zu kön­nen oder neu erfin­den zu müssen, — 
sprich Leute wie Wern­er Mey­er oder Ange­lo Garovi …

In einem Welt­woche-Edi­to­r­i­al kommt auch Wil­helm Tell zu Ehren:
Die grössten Schweiz­er Nationalmythen han­deln von Wil­helm Tell und Arnold Winkel­ried. Tell ist der Tyran­nen­mörder, nach­dem der Rütlis­chwur unsere Demokratie begrün­det hat. Winkel­ried ste­ht für das Selb­stopfer des Eidgenossen auf dem Schlacht­feld, den Seinen eine Gasse hauend. Während viel­er Jahrhun­derte bilde­ten diese Erzäh­lun­gen die Grund­lage des eid­genös­sis­chen Selb­st­be­wusst­seins. Der Eidgenosse war der Kämpfer, der Vertei­di­ger sein­er Frei­heit gegen über­mächti­gen Wider­stand. Tells Arm­brust ist das Ur-Emblem dieser kriegerischen Kul­tur. (…)
Es ist ein Jam­mer, dass die alten Helden­mythen in unseren Schulen nicht mehr gelehrt und disku­tiert wer­den. Dahin­ter steckt eine Ver­ach­tung des Unter­richts, aber auch poli­tis­che Absicht …

Tja, da ste­hen sich zwei radikal ent­ge­genge­set­zte Ver­sio­nen der Entste­hungs­geschichte der Eidgenossen­schaft gegenüber. Wer hat nun recht? Vielle­icht fra­gen wir am besten die sin­nend auf einem Brück­enpfeil­er der Mit­tleren Brücke am Rhein sitzende Hel­ve­tia?
Lassen wir sie also in aller Ruhe nach­denken und hören uns ihre Über­legun­gen in der näch­sten Folge am kom­menden Don­ner­stag, den 17. August an.

Wer einen Blick in das Inhaltsverze­ich­nis des Buchs von Meyer/Garovi tun möchte, kann das hier  tun. Und wer sich die faszinierende Geschichte des Tell-Mythos wieder in Erin­nerung rufen möchte, schaut sich am besten die birsfaelder.li-Serie zu Wil­helm Tell  an.

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Mattiello am Mittwoch 23/32
Die Reichsidee 98

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