Leider hat sich Madame Helvetia auf der Mittleren Brücke bei einem zweiten Versuch trotz Geisterstunde und magischem Code in Schweigen gehüllt. Aber der birsfaelder.li-Schreiberling lässt sich nicht entmutigen und bleibt am Ball! Immerhin bietet das Gelegenheit, sich wenigstens kurz mit der Schöpferin der Skulptur auseinanderzusetzen: Bettina Eichin, mit ihren 81 Jahren immer noch hellwach.
Ein Blick auf den Wikipedia-Artikel macht eines sofort klar: Hier ist eine mutige, selbstbewusste, politisch und sozial engagierte Frau Schritt um Schritt ihren eigenen Weg gegangen.
Zwei ihrer Werke hatten ein besonderes Schicksal:
● Zum 100-jährigen Jubiläum zog die damalige Sandoz die Spendierhosen an und wollte der Stadt einen von Eichin gestalteten Brunnen auf dem Marktplatz schenken. Das Projekt ging dann ganz ohne Spendieren in die Hosen, denn
… mitten in die Vorbereitungsphase platzte am 1. November 1986 der Chemie-Brand in Schweizerhalle, der die regionale Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte.
Auch Eichin war vom “Ereignis” (wie es das Unternehmen gern herunterspielte) persönlich stark betroffen. Sie konnte ihren ursprünglichen Entwurf nicht mehr umsetzen, sondern wollte auf dem “politischen Tisch”, wie er damals vorgesehen war, den 1. November künstlerisch einbringen. (aus OnlineReports von Peter Knechtli)
Was danach geschah, schilderte Eichin in einem Interview:
Für mich als Chronistin war es selbstverständlich, dass ich diese Katastrophe, die für Basel ein Kulturschock war, im Werk Marktplatzbrunnen berücksichtige und ein Bild dafür finde. Sie gewährten mir Zeit zum Nachdenken und jede künstlerische Freiheit. Ein Jahr später ging es ihnen besser. Die Sandoz A.G. brillierte mit besten Geschäftszahlen und die Herren erwarteten von mir einen unverfänglichen, hübschen Brunnen auf dem Marktplatz, etwas, wie sie sagten, „Nettes wie die Helvetia auf der Mittleren Brücke“, die sie jedem ausländischen Gast zeigen.
Ich schilderte ihnen, was die Helvetia bedeutet und aussagt. Sie steigt aus der Festprägung der Münze, also des Geldes, aus, ist unterwegs, um sich müde, nachdenklich und abgewandt auf ihrem Sockel auszuruhen – Eigenschaften, die an Frauen nicht geschätzt werden. Sie schaut rheinabwärts zur Chemie und über die Grenzen. Sie hat abgerüstet und ihre Hoheitssymbole hinter sich abgelegt, der Koffer ist ein Hinweis auf ihr „Unterwegssein“, auf ein Jahrhundert Kofferpacken, Flucht und Aufbruch. Die beiden Herren waren über meine Ausführungen entsetzt. Einer meinte gar, das sei „staatszersetzend“.
Heute sind die “Markttische” im Kreuzgang des Münsters zu bewundern.
● Nicht viel besser erging es der monumentalen Skulptur “Menschenrechte”, die eine eigentliche Odyssee hinter sich hat. Ursprünglich von der Peter Ochs-Gesellschaft für den Petersplatz in Auftrag gegeben, machte sie Halt im Bundeshaus, wechselte zur Universität Freiburg, erschien an der Ausstellung “Demokratie” in Aarau, durfte aber nicht bleiben, verschwand in einem Depot in Münchenstein und tauchte kürzlich anlässlich einer Ausstellung im Landesmuseum wieder auf. Erwähnenswert ist die Initiative des aktuellen Landratspräsidenten Pascal Ryf im Jahre 2019, der als definitiven Standort Liestal vorschlug. Dies im Zusammenhang mit dem lange verkannten und verfemten Basler Politiker und Kämpfer für Menschenrechte Peter Ochs, dem das birsfaelder.li letztes Jahr übrigens eine ausführliche Würdigung angedeihen liess. Und Bettina Eichins Ausführungen zum Thema sind nach wie vor höchst lesenswert.
Doch zurück zur leider etwas müde gewordenen Grande Dame “Helvetia”. Im oben erwähnten Interview wurde Bettina Eichin auch gefragt, was sie mit ihrer Helvetia aussagen wollte. Ihre Antwort:
Ich wollte aus der Helvetia-Allegorie auf unseren Münzen wieder eine Frau machen, sie aus der Festprägung befreien, aussteigen lassen – genauso, wie wir Frauen damals. Nur ganz wenige Menschen haben vor 30 Jahren verstanden, was ich mit der Helvetia ausdrücken wollte. Einer war der damalige Basler Regierungsrat Arnold Schneider. Er begriff auf Anhieb, was ich mit der Helvetia sagen wollte und begrüsste wie Rumpelstilzchen den emanzipatorischen Ansatz des Werkes. Andere Menschen fanden sie einfach nur echt baslerisch originell oder angenehm anzuschauen.
Damals wurde eine Botschaft in einem Kunstwerk strikte abgelehnt. Es war absolut verpönt, mit Kunst etwas Politisches zu sagen oder auf ein gesellschaftliches Anliegen aufmerksam zu machen. Kunst mit einer sogenannten „Botschaft“ wurde nicht als Kunst anerkannt. Realistische Kunst wurde verdächtigt, sozialistisch, faschistisch oder bestenfalls historistisch zu sein. Was gefallen könnte, durfte nicht sein und wurde sofort zur Nichtkunst degradiert. Kunst ist aber immer auch Sprache, ein Kommunikationsmittel, und ich wollte mit der Helvetia eine Geschichte erzählen. Um sie lesbar zu machen, wählte ich das realistische Bildmittel. Ich würde meinen Realismus als poetischen oder lyrischen Realismus bezeichnen.
Vielleicht ist es dieser poetische, lyrische Realismus, der macht, dass man mit der edlen, nachdenklichen Dame kommunizieren kann (sofern man den magischen Code besitzt 🙂 ). Der birsfaelder.li-Schreiberling wird auf alle Fälle einen neuen Versuch wagen! Mit etwas Glück erfahren wir mehr
am kommenden Donnerstag, den 31. August!
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Franz Büchler
Aug. 24, 2023
Schon in früheren Zeiten hat sich das birsfälder.li mit Werken von Bettina Eichin befasst. So im September 2021 mit der Vergänglichkeit in Zusammenhang mit STEP:
https://www.birsfaelder.li/wp/politik/die-vergaenglichkeit/
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Und schon vorher im Januar 2019. Da wurde gezeigt, wir die Helvetia im Atelierhaus in Birfelden nach dem Guss bearbeitet wurde:
https://www.birsfaelder.li/wp/lokal/back-stage-atelierhaus/