Das Wetter war so scheusslich nasskalt wie seit unserer letzten Begegnung vor vier Wochen. Aber der birsfaelder.li-Schreiberling wollte nicht länger warten, zog sich also wetterfest und warm an und begab sich um Mitternacht erneut zur Mittleren Brücke, um das Gespräch mit unserer Landesmutter wieder aufzunehmen.
Schreiberling: Hochedle Helvetia, ich hoffe, du bist mir nicht gram, dass ich seit unserem letzten Gespräch fast einen Monat verstreichen liess …
Helvetia: Zeit spielt für uns keine Rolle. Hast du dir Gedanken zum abschliessenden Zitat gemacht?
S: Du spielst auf “Das Königreich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht” an. Ja, habe ich: Es stammt — wie ich herausgefunden habe — aus dem apokryphen “Thomas-Evangelium”, einer koptischen Sammlung von Aussprüchen, sog. “Logien”, die Jesus zugeschrieben werden. Seine Aussage erfolgt nach einem Dialog zwischen dem Meister und seinen Jüngern:
Das Reich, wann wird es kommen? – Es wird nicht kommen im Ausschauen danach. Man wird nicht sagen: Siehe hier! Oder: Siehe dort!
Helvetia: Hast du das verstanden?
S: Ich weiss nicht … Es scheint mir, dass sich darin eine radikale Absage an irgendwelche Utopien verbirgt.
Helvetia: Das siehst du durchaus richtig.
S: Aber wo soll man es denn entdecken, wenn das Ausschauen danach sinnlos ist?
Helvetia: Schau dir doch nochmals die Aussage Jesu genauer an!
S: … Nun, das einzige, was mir auffällt, ist, dass hier nicht von “Ausschauen”, sondern von einem absichtslosen “Sehen” die Rede ist.
Helvetia: Gibt es da vielleicht einen Unterschied?
S: Natürlich: “Ausschau halten” oder “Siehe hier! Siehe dort!” ist ein Akt der bewussten Suche nach etwas im Äusseren.
Helvetia: Und “Sehen” im abschliessenden Satz?
S: In “... die Menschen sehen es nicht” geht es um einen Zustand des Nicht-Sehens, um eine Blindheit gegenüber etwas, das nicht gesucht werden muss, weil es ja schon da ist.
Helvetia: Und was folgerst du daraus?
S: Na, ja … dass das entscheidende Problem nicht da “draussen” ist, sondern unsere Blindheit. Aber jetzt mal ehrlich! Ich sehe eigentlich noch ganz gut. Es muss sich also um eine innere Blindheit handeln. Vielleicht ist diese Feststellung identisch mit jener, dass wir in unserem gewöhnlichen Tagesbewusstsein im Grunde “schlafen” und noch gar nicht aufgewacht sind!?
Helvetia: Dem ist tatsächlich so.
S: Da kommt jetzt aber die Gretchenfrage: Wie kann ich diese innere “Blindheit” ablegen und “wach” werden?
Helvetia: (etwas entrüstet) — Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dir jetzt eine pfannenfertige Antwort liefere!?
S: (schluckt leer) — Eigentlich müsste mir das ja schon seit längerem klar geworden sein … Heisst das, dass ich mir mit meiner Frage die nächste Hausaufgabe eingehandelt habe?
Helvetia: Kluges Köpfchen!
S: Danke für das Kompliment. Ich melde mich wieder, wenn ich soweit bin.
Helvetia: So sei es!
Doch für den Schreiberling gab es zunächst nur ein Ziel: Heim ins warme Bett …
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