Das Wet­ter war scheus­slich, Kälte und Feuchtigkeit schlichen sich um Mit­ter­nacht in die Knochen. Aber all diese Unan­nehm­lichkeit­en nahm der birsfaelder.li-Schreiberling um des Gesprächs willen, das ihn erwartete, gerne auf sich. Hier ist es:

Schreiber­ling: Edle Hel­ve­tia, habe Dank für deine Bere­itschaft, unseren Dia­log fortzuset­zen. Mir sind näm­lich inzwis­chen noch ein paar Gedanken zur „ewigen Eidgenossen­schaft“ gekom­men.
Hel­ve­tia: Lass hören!
S: Mir ist zum ersten Mal richtig bewusst gewor­den, dass alle poli­tis­chen Gebilde let­ztlich auf Sand gebaut sind.
Hel­ve­tia: Wie kommst du zu dieser Erken­nt­nis?
S: Das sind ja alles Gebilde im Zeit­en­strom. Sie verän­dern sich, sie ster­ben, sie wer­den neu geboren. Aber meis­tens erleben wir sie als sta­tisch — wenn nicht ger­ade eine Rev­o­lu­tion aus­bricht oder eine tiefe soziale Krise ein­tritt. Das Gebilde, das wir als aktuelle Schweiz erleben, ist ger­ade mal 150 Jahre alt, — ein Klacks in der Welt­geschichte. Und dessen Zus­tandekom­men stand, wie wir heute wis­sen, bis zulet­zt auf der Kippe. Wer garantiert uns eigentlich, dass es diese Schweiz so auch noch nach weit­eren 150 Jahren gibt!?
Hel­ve­tia: Was fol­gerst du daraus?
S: Dass wir uns hüten müssen, unser Bild dessen, was wir „Schweiz“ nen­nen, ein­fach unbe­se­hen und unre­flek­tiert in die Zukun­ft zu pro­jizieren. Das erin­nert mich an den Auf­satz von Aldous Hux­ley über Zeit und Ewigkeit, — und darüber, wie poli­tis­che Zukun­ft­spro­jek­tio­nen katas­trophale Kon­se­quen­zen haben kön­nen. Sowohl der Nation­al­sozial­is­mus als auch der Bolschewis­mus mal­ten sich eine ide­ale Zukun­ft aus: die Nazis das rassen­reine deutsche Volk voll edler Hünen und treuer Heim­chen am Herde, die Bolschewi­ki die klassen­lose Gesellschaft, in der jede und jed­er ein paradiesis­ches Leben führen kann.
Hel­ve­tia: Hast du dir ein­mal über­legt, warum diese Ide­ale sich in Alb­träume ver­wan­del­ten?
S: Es scheint mir, dass man, um das Ide­al in der Zukun­ft zu erre­ichen, offen­sichtlich jew­eils vorher ein Hin­der­nis — das „Böse“ — aus dem Weg räu­men muss. Bei den Nazis waren es die Juden, bei den Bolschewi­ki der Klassen­feind des Pro­le­tari­ats.
Hel­ve­tia: Siehst du die tödliche Falle?
S: (denkt nach)Kön­nte die Falle darin beste­hen, dass wir auf diese Weise hin­ter den Etiket­ten, — hier also „Jude“ und „Klassen­feind“ — den indi­vidu­ellen, real leben­den Men­schen aus den Augen ver­lieren, ihn sozusagen aus­blenden? Wenn man für „das Gute“ und gegen „das Böse“ kämpft — und sich selb­stver­ständlich auf der Seite des Guten sieht -, ist das je einzi­gar­tige Indi­vidu­um aus dem Gesicht­skreis ver­schwun­den.
Genau das, wird mir jet­zt klar, hat Hux­ley in seinem Artikel auf den Punkt gebracht, als er den Unter­schied zwis­chen ein­er Poli­tik beschreibt, die inner­halb des Zeitkonzeptes agiert, und ein­er Poli­tik, die sich — als Beispiel — an der „ewigen Eidgenossen­schaft“ ori­en­tiert:
Diejeni­gen …, die die Zeit als let­zte Real­ität betra­cht­en, sind in erster Lin­ie mit der Zukun­ft beschäftigt und betra­cht­en die gegen­wär­tige Welt und ihre Bewohn­er als bloße Trüm­mer, als Kanonen­fut­ter, als poten­tielle Sklave­nar­beit­er, die aus­ge­beutet, ter­ror­isiert, liq­ui­diert oder in die Luft gesprengt wer­den müssen, damit Men­schen, die vielle­icht nie geboren wer­den, in ein­er zukün­fti­gen Zeit, über die man nichts mit dem ger­ing­sten Grad an Gewis­sheit wis­sen kann, die Art von wun­der­voller Zeit haben kön­nen, die die heuti­gen Rev­o­lu­tionäre und Kriegstreiber meinen, dass sie haben soll­ten. Wäre der Wahnsinn nicht krim­inell, wäre man ver­sucht, zu lachen.
Die Poli­tik der­jeni­gen, die die Ewigkeit als let­zte Real­ität betra­cht­en, befasst sich mit der Gegen­wart und mit den Mit­teln und Wegen, die gegen­wär­tige Welt so zu gestal­ten, dass sie der indi­vidu­ellen Befreiung von Zeit und Unwis­senheit möglichst wenige Hin­dernisse in den Weg legt.
Hel­ve­tia: Hast du dir schon mal über­legt, worin sich Zeit und Ewigkeit eigentlich unter­schei­den?
S: Da legst du mir aber eine echte Knack­nuss vor … Aber wenn ich schon Hux­ley zitiere, sollte ich auf deine Frage eigentlich antworten kön­nen.
Hel­ve­tia: Nur zu!
S: Ewigkeit kann auf alle Fälle nicht ein ewig dahin­strö­mender Zeit­fluss sein, — son­st wäre sie ja nicht ausser­halb der Zeit. — Vielle­icht ist es ein Zus­tand des sich ewig erneuern­den „Jet­zt“ jen­seits von Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft? Aber vielle­icht ist es müs­sig, sie definieren zu wollen, weil sie let­ztlich nur erfahren wer­den kann?
Hel­ve­tia: Das siehst du ganz richtig. Und hier noch ein Denkanstoss für unser näch­stes Gespräch: In dieser der Zeit unter­wor­fe­nen Welt ist alles im Fluss. Völk­er, Reiche und Staat­en entste­hen und verge­hen ohne Unter­lass. Und doch hat ein Lehrer vor 2000 Jahren verkün­det, dass es hin­ter diesem Fliessen und Wan­deln einen unver­rück­baren Felsen gibt, der ausser­halb der Zeit ste­ht und ist:
“Das Kön­i­gre­ich des Vaters ist aus­ge­bre­it­et über die Erde, und die Men­schen sehen es nicht”.
S: Inter­es­sant. Wo hast du denn diese Aus­sage her!?
Hel­ve­tia: Das her­auszufind­en, sei deine Hausauf­gabe!
S: Der werde ich gerne nachkom­men und danke dir schon jet­zt für deine Bere­itschaft, unser Gespräch weit­erzuführen.

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Mattiello am Mittwoch 23/46
Die Reichsidee 111

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