Die Ent­täuschung Brup­bach­ers angesichts der “klein­bürg­er­lichen” sozialdemokratis­chen Partei­hier­ar­chie war 1904 verschwunden:
Ueber­all wuchs das Selb­st­be­wußt­sein der Arbeit­er­schaft; es war, als ob ein ander­er, neuer Geist in die Arbeit­er­schaft ein­dringe, als ob direkt ein neuer Arbeit­er­ty­pus entste­he. Aus dem anony­men Stim­mzettel­men­schen wurde ein Krieger, der mit offen­em Visi­er kämpfte. Es war, als ob der Sozial­is­mus der Wahlzahlen durch den Sozial­is­mus der direk­ten Aktion aller einzel­nen erset­zt würde.
Als ob alle einzel­nen sel­ber auf den Plan träten. (Brup­bach­er, Ketzer)

Dieser Stim­mung­sum­schwung war allerd­ings nicht ein­er Ver­wand­lung der Sozialdemokrat­en geschuldet, son­dern der Ent­deck­ung eines “Sozial­is­mus der direk­ten Aktion”, wie er sich in Frankre­ich durch die Entste­hung des rev­o­lu­tionären Syn­dikalis­mus her­aus­ge­bildet hat­te. Rev­o­lu­tionäre Syn­dikalis­ten woll­ten den Kampf für bessere Lebens­be­din­gun­gen der Arbeit­er­schaft mit­tels eigen­er Pro­duk­tion­sgenossen­schaften, mit Boykott, Sab­o­tage und Streiks ohne Umweg über Poli­tik und Staat führen.
Der Streik war das Stahlbad eines aktiv­en, sich sein­er Möglichkeit­en bewussten Pro­le­tari­ats, das sein Schick­sal in die eigene Hand nehmen und sich nicht wie eine Herde Schafe von Lei­tham­meln führen lassen wollte. Die föder­al­is­tis­che Organ­i­sa­tion und der Streik waren die organ­isatorische und die tak­tis­che Kon­se­quenz des von den Anar­chis­ten über­nomme­nen Prinzips der Egal­ität. (Lang. Kri­tik­er, Ket­zer, Kämpfer)

In der Schweiz fand diese Art des Klassenkampfs vor allem in der Romandie bei den Bauar­beit­ern und den Arbeit­ern in den Schoko­lade- und Kon­dens­milch­fab­riken Anklang. Ein Vetreter dieses welschen Syn­dikalis­mus, der Fre­und Brup­bach­ers Jean Wintsch, beschrieb ihn so:
Das Wort Föder­al­is­mus, so ver­standen, bedeutet Union, Allianz, frei­williger Zusam­men­schluss: es kann nicht im Sinne von Unterord­nung von Indi­viduen und Grup­pen aufge­fasst wer­den. Und weil sich das Han­deln zwis­chen Gle­ich­berechtigten abspielt, kann es keine befehlen­den Führer und Komi­tees geben. Im Gegen­teil, sobald ein Kam­er­ad fähig ist, eine Auf­gabe zu erledi­gen, überträgt man sie ihm.

Von dieser Hal­tung bis zum Anar­chis­mus ist es nicht mehr weit. Brup­bach­er war mit ihm schon während des Studi­ums in Berührung gekommen:
Der erste erk­lärte Anar­chist, mit dem er zusam­men­traf, war der Gärt­ner Alfred San­ftleben. Von der ersten Begeg­nung im März 1897 bis zur Emi­gra­tion San­ftlebens in die USA im Jahre 1900 pflegten die bei­den einen regelmäs­si­gen Kon­takt. Der vier Jahre ältere Auto­di­dakt führte den Irre­narzt ein in die vielgestaltige Welt der anar­chis­tis­chen Denken des 19. Jahrhun­derts. Man disku­tierte über Blan­qui, Proud­hon und vor allem über Bakunin, für den Brup­bach­er eine lebenslängliche Begeis­terung bewahrte.

Ab 1903 gab eine kleine Anar­chis­ten­gruppe in Zürich den “Weck­ruf” her­aus. Brup­bach­er war zwar noch überzeugt, nur in der Sozialdemokratie sin­nvoll wirken zu können.
Das hin­derte ihn allerd­ings nicht, ständig Kon­takt mit allen möglichen Rev­o­lu­tionären zu pfle­gen. Es gab keinen Anar­chis­ten oder Sozial­rev­o­lu­tionär, ganz gle­ich welch­er Obser­vanz, der bei seinem Aufen­thalt oder auf der Durchreise in Zürich nicht min­destens ein­mal in der Prax­is an der Baden­er­strasse aufge­taucht wäre.
Da die meis­ten von ihnen von der Hand in den Mund lebten, musste der sozial­is­tis­che Arzt mit der gut­ge­hen­den Prax­is immer wieder ihre finanziellen Eng­pässe über­brück­en. Er war Arzt, Diskus­sion­spart­ner und Gläu­biger all dieser aus mit­tel- und osteu­ropäis­chen Monar­chien geflüchteten oder aus­gewiese­nen Rev­o­lu­tionäre. Dank dieser Stel­lung war er mit den ver­schiede­nen Spielarten des ausser­halb der etablierten Sozialdemokratie ste­hen­den Sozial­is­mus aus beste vertraut.
Als dann von diesen Kreisen aus ver­sucht wurde, neue Ideen in die Partei und die Gew­erkschaften hineinzu­tra­gen, gehörte Brup­bach­er zum linken Flügel, der bestrebt war, von innen die Tore für einen neuen Wind von aussen aufzus­tossen. (Lang. Kri­tik­er, Ket­zer, Kämpfer)

Anar­chis­mus! — Das Wort hat­te damals, und oft bis heute, wegen der “Pro­pa­gan­da der direk­ten Aktion”- näm­lich dass die gesellschaftlichen Ver­hält­nisse mit Ter­ro­rak­ten aufge­brochen und verän­dert wer­den müssen —  eine Aura von Schwe­felges­tank um sich:
1898 war Kaiserin Sisi in Genf von einem anar­chis­tis­chen Atten­täter ermordet wor­den. 1904 fiel der rus­sis­che Min­is­ter Ple­hwe und Gross­fürst Sergei A. Romanow zwei Bombe­nat­ten­tat­en durch Sozial­rev­o­lu­tionäre zum Opfer.

Solche Aktio­nen fügten der Grun­didee des Anar­chis­mus auf Jahrzehnte hin­aus schw­er­sten Schaden zu. So kon­nte ein Basler sozial­is­tis­ch­er Regierungsrat damals verkün­den, dass der Anar­chis­mus so gut wie der Kap­i­tal­is­mus, mit dem er am meis­ten ver­wandt, ein Tod­feind des Sozial­is­mus und der Arbeit­er­be­we­gung ist.
(Es lohnt sich, dieser Aus­sage Leben und Werk des Basler Anar­chis­ten Hein­er Koech­lin gegenüberzustellen)

Wenn 1904 für Fritz Brup­bach­er ein hoff­nungsvolles Jahr war, galt das umso mehr für 1905. Den Grund dafür ler­nen wir in der näch­sten Folge

am Sam­stag, den 12. März kennen.

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Me hätts nit dänggt, me hätts nit dänggt, me hätts verdooria nit dänggt …

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