Das sel­te­ne Pri­vi­leg eines Besuchs der jun­gen Sowjet­uni­on ver­dank­te Brup­ba­cher der lang­jäh­ri­gen Bekannt­schaft von Wil­li Mün­zen­berg, der inzwi­schen in Ber­lin für die Revo­lu­ti­on agi­tier­te. Mit ihm zusam­men beglei­te­te er einen Nah­rungs­mit­tel­trans­port der Inter­na­tio­na­len Arbei­ter­hil­fe, u.a. mit hun­dert Büch­sen schwei­ze­ri­scher Kondensmilch.

Denn inzwi­schen sah sich der jun­ge Staat einer gigan­ti­schen Hun­ger­ka­ta­stro­phe gegen­über. Meh­re­re Fak­to­ren kamen gleich­zei­tig zusammen:
— Der Bür­ger­krieg zwi­schen Weis­sen und Roten hat­te die Infra­struk­tur und das Schie­nen­netz in vie­len Gebie­ten zerstört.
— Im Früh­jahr und Som­mer 1921 fiel in den wich­ti­gen Getrei­de­an­bau­ge­bie­ten an der Wol­ga kein Regen. Eine mas­si­ve Dür­re trat ein.
— Im Bür­ger­krieg kam es bei den Bau­ern zu mas­si­ven Zwangs­re­qui­si­tio­nen von Getrei­de, um die Rote Armee zu ver­sor­gen. Die­se reagier­ten oft mit einem Anbaustreik.
Die Fol­ge waren fünf Mil­lio­nen Hungertote.

Brup­ba­cher schil­dert anschau­lich sei­ne Erfah­run­gen auf der Rei­se in die Hungergebiete:
In den ers­ten Tagen des Dezem­ber 1921 fuh­ren wir gen Kasan. Es war eine Fahrt mit Hin­der­nis­sen, da noch nichts klapp­te in bezug auf die Trans­port­mit­tel. Eines Tages erhiel­ten wir plötz­lich Befehl, unse­re Sachen zu packen und sofort zur Bahn zu fah­ren. Wir taten’s. Kamen auch bei unse­rem Zug an. Stie­gen ein in den von Trotz­ki ent­wanz­ten Wagen. Als der Zug nach zwölf Stun­den nicht abfuhr und kei­ne Rekla­ma­ti­on nütz­te, tele­pho­nier­ten wir dem Sekre­tär Trotz­kis, und nach zwei Stun­den fuhr der Zug ab. Wir haben noch­mals tele­pho­niert, als uns an einer Sta­ti­on die Loko­mo­ti­ve gestoh­len wur­de, wir sie nicht mehr fan­den und es auch nichts half, als unser Expe­di­ti­ons­lei­ter dem Sta­ti­ons­vor­stand den Revol­ver unter die Nase hielt. Der Revol­ver half nicht — aber das Tele­pho­nie­ren an Trotz­kis Sekretär.

Es gab noch aller­lei Aben­teu­er. Ein­mal woll­te uns der Loko­mo­tiv­füh­rer nicht wei­ter­füh­ren, bis wir ihm zu essen gege­ben hät­ten. Jeden Augen­blick lief eine Ach­se rot, da kein Oel zur Ver­fü­gung war. Es dau­er­te fast sie­ben Tage, bis wir in Kasan anka­men, obwohl die Stre­cke nicht ganz 800 Kilo­me­ter lang ist.

Was Brup­ba­cher dann in den Hun­ger­ge­bie­ten erleb­te, scho­ckier­te ihn tief:
Von Spassk aus fuh­ren wir in die eigent­li­chen Hun­ger­dör­fer. Das war schreck­lich. In jedem Bau­ern­haus in den Bet­ten und am Boden ein hal­bes bis ein gan­zes Dut­zend Men­schen, die kaum mehr atme­ten, die geschwol­le­ne Bäu­che und geschwol­le­ne Glie­der hat­ten, die im Ster­ben lagen, von denen man kei­ne Aus­kunft mehr erhielt.

Das Vieh war in der Gegend schon lang auf­ge­ges­sen. Man nähr­te sich von Gras, Stroh, von allem, was man hin­un­ter­schlu­cken konn­te. Der Ein­druck, den das mach­te, war fürch­ter­lich. Man war nach­her unemp­find­lich für alles. Wir haben eini­ge hun­dert sol­cher Men­schen gese­hen ; es gab ihrer Mil­lio­nen. Krieg, Bür­ger­krieg, Requi­si­tio­nen, Pas­si­vi­tät der Bau­ern, die nichts mehr anbau­ten, und zuletzt die Dür­re, hat­ten die­sen Zustand geschaf­fen. Man sah auch, wie der Hun­ger pas­siv macht. Die Mehr­zahl der Bau­ern leg­te sich ein­fach hin zum Ster­ben. Die paar ener­gi­schen Natu­ren unter ihnen wur­den Räu­ber, Wege­la­ge­rer. Um Kasan her­um gab’s eine Unmen­ge Raub­über­fäl­le, und täg­lich wur­den vier­zig bis fünf­zig «Ban­di­ten» erschos­sen. Gleich­zei­tig wüte­te der Hun­ger­ty­phus. In Kasan star­ben täg­lich drei­ßig bis vier­zig Men­schen dar­an. Zur Zeit waren in den Spi­tä­lern, die ich besuch­te, über zwei­tau­send Fleck­ty­phus­kran­ke. Die hal­be Bevöl­ke­rung litt an Magen­darm­krank­hei­ten, da man alles mög­li­che aß, was nicht zum Essen bestimmt ist. Mas­sen­haft wur­den Erfro­re­ne ein­ge­lie­fert und Wangenbrandkranke.

Die Aerz­te sel­ber sahen aus wie Lei­chen. Sie hat­ten fast nichts zu essen. Sie hat­ten kei­ne Medi­ka­men­te, kei­ne Thermometer …

Da vie­le Eltern star­ben oder von ihren Kin­dern weg­lie­fen, gab’s eine Unmen­ge von ver­wahr­los­ten Kin­dern. Für die­se setz­te sich die Regie­rung ein, errich­te­te eine sehr gro­ße Zahl Kin­der­häu­ser. Man traf vie­le Men­schen, die voll Auf­op­fe­rung in dem Hun­ger­ge­biet arbei­te­ten. Güte und schlimms­ter Ego­is­mus, Auf­op­fe­rung und Weg­neh­men des Letz­ten beim Nächs­ten, bei­des fiel in der Hun­ger­ge­gend auf. Der Hun­ger schafft Räu­ber, Hei­li­ge — und Lei­chen. Es ist, als ob der mitt­le­re Mensch aus­stür­be, wo gehun­gert wird.

Vor und nach die­ser Rei­se in das Grau­en hielt sich Brup­ba­cher meh­re­re Wochen in Mos­kau auf. Das erlaub­te ihm, sich umzu­se­hen, alte Bekann­te und eini­ge der neu­en Macht­ha­ber zu tref­fen und zu inter­view­en. Und er muss­te fest­stel­len, dass er mit sei­nen Ansich­ten im Hotel Lux, wo er resi­dier­te, bereits als jemand galt, dem man zur Sicher­heit am bes­ten aus dem Weg ging:

Mein Ruf im “Lux” wurd bald noch gestei­gert, als Men­schin­ski, aus dem Prä­si­di­um der Tsche­ka, per­sön­lich zu mir auf Besuch kam und der damals all­mäch­ti­ge Trotz­ki mir tele­pho­nier­te, er wer­de mich in sei­nem Auto abho­len las­sen. Und trotz­dem hiel­ten sich ins­be­son­de­re die deut­schen Genos­sen von mir fern, da mir der Ruf einer unor­tho­do­xen Ein­stel­lung mit anar­chis­ti­scher Ader voranging.
Bald erschie­nen mei­ne nähe­ren Bekann­ten nicht mehr zur Essens­zeit, da sie fürch­te­ten, sich zu kom­pro­mit­tie­ren, wenn sie sich mit mir «unter den Lin­den» zei­gen wür­den. Es war eine eigen­ar­ti­ge Atmo­sphä­re im Hotel Lux. Eine Atmo­sphä­re, die ich bis dahin nicht gekannt, die aber spä­ter auf die gan­ze Kom­in­tern sich ver­brei­te­te. Jeder fürch­te­te, nicht ortho­dox genug zu sein, und lei­se sprach es sich her­um, daß das Haus voll von Spio­nen sei, die höhe­ren Ortes alles berich­te­ten, was ein jeder sage. Und da ich sprach, wie mir mein Schna­bel gewach­sen war, lob­te und kri­ti­sier­te, wie es mir rich­tig schien, so gab es eine gro­ße Lee­re um mich herum.

Nach dem Kron­stadt-Matro­sen­auf­stand und dem Auf­be­geh­ren der Bau­ern hat­te Lenin im März 1921 die Neue Öko­no­mi­sche Poli­tik (NEP) aus­ge­ru­fen, die in beschränk­tem Rah­men wie­der Eigen­in­itia­ti­ve, Pri­vat­ei­gen­tum und Gewinn­stre­ben ermög­lich­te. Damit erhoff­te er sich die Wie­der­an­kur­be­lung der durch den Bür­ger­krieg dar­nie­der­lie­gen­den Wirtschaft.

In die­ser tur­bu­len­ten und oft wider­sprüch­li­chen Pha­se der Errich­tung des neu­en Staa­tes unter bol­sche­wis­ti­scher Kon­trol­le und Füh­rung ver­such­te Brup­ba­cher sich ein Bild über die posi­ti­ven und nega­ti­ven Sei­ten der Ent­wick­lung hin zur “Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats” zu machen.

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den 27. August.

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