Am 6. Novem­ber 1917 lasen wir in der Zeitung ein Telegramm, daß Ruß­land von neuem vor einem reak­tionären Staatsstre­ich ste­he, und daß der Jus­tizmin­is­ter die Ver­haf­tung Lenins ange­ord­net habe. Am 7. Novem­ber kam ein Telegramm, daß der Pet­ro­grad­er Sow­jet Trup­pen mit Maschi­nengewehren an seinen Stan­dort habe kom­men lassen. Fre­itag, den 9. Novem­ber, las man in der Zeitung : Lenin tri­um­phiert in Pet­ro­grad. Die Min­is­ter ver­haftet. Keren­sky abge­set­zt. Die Arbeit­er- und Sol­daten­rev­o­lu­tion. Lenin für sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand und Frieden. (…)

Mit Span­nung ver­fol­gten wir die Ereignisse, immer noch zit­ternd, daß etwas nicht klap­pen werde. Aber es klappte alles. Bei uns begeis­terte sich die gesamte Arbeit­er­schaft; nur ein paar Bonzen drück­ten ihre Unzufrieden­heit mit dem Gang der Geschichte aus. So war denn doch die rus­sis­che Rev­o­lu­tion, wie wir sie uns 1905 gewün­scht hat­ten, zur Wirk­lichkeit gewor­den, hat­te eine neue Tat­sache in die Welt geset­zt, die von nun an die alte bürg­er­liche Welt tagtäglich beun­ruhigte. Es war etwas Neues in die Welt gekommen.

So begrüsste Fritz Brup­bach­er die bolschewis­tis­che Rev­o­lu­tion, welche die Geschichte des ganzen 20. Jahrhun­derts wie kein zweites Ereig­nis geprägt hat.

Bevor wir uns aber Brup­bach­ers neu erwachter Hoff­nung für einen drama­tis­chen Umschwung auch in Wes­teu­ropa zuwen­den, macht es vielle­icht Sinn, die wichtig­sten Ereignisse in Rus­s­land in jenen Jahren in Erin­nerung zu rufen:
Nach der siegre­ichen Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion, die zur Abdankung des Zaren Niko­laus II. führte, set­zte Lenin alle Hebel in Bewe­gung, um aus seinem Exil in der Schweiz nach Rus­s­land zu gelan­gen. Die deutsche Regierung sah offen­sichtlich die Chance, dass Lenins Rück­kehr nach Rus­s­land zu Chaos führen und so die rus­sis­che Kampfkraft schwächen kön­nte und erlaubte im April 1917 die Durch­fahrt für Lenin und seine Kampfgenossen in einem plom­bierten Eisen­bah­n­wa­gen durch das Deutsche Reich nach Peters­burg. Fed­er­führend bei der Organ­i­sa­tion des Trans­ports war übri­gens der Schweiz­er Fritz Plat­ten. (Die Uni-Bib­lio­thek Basel hat ihm kür­zlich eine ein­drück­liche Ausstel­lung gewidmet)

Und Lenin sorgte tat­säch­lich für Chaos.
Er rief sofort zum Sturz der Pro­vi­sorischen Regierung unter Keren­s­ki auf. Massendemon­stra­tio­nen genügten aber nicht. Die bolschewis­tis­che Partei wurde ver­boten und Lenin ging in den Unter­grund, weil er die Todesstrafe befürchtete. Doch im Okto­ber gelang es den Bolschewi­ki, sich unter der Führung von Leo Trotz­ki in einem fast unbluti­gen Staatsstre­ich an die Macht zu hieven. Leg­endär geblieben ist die Episode des Beschuss­es des Win­ter­palastes, dem Regierungssitz, durch “den Kreuzer Auro­ra”.

Um den Schein ein­er demokratis­chen Ver­fas­sung zu wahren, führten die Bolschewi­ki noch im Novem­ber Wahlen für eine Ver­fas­sungs­gebende Ver­samm­lung durch. Doch als wider Erwarten die Sozial­rev­o­lu­tionäre obe­nauf schwan­gen, lösten sie im Jan­u­ar 1918 die Ver­samm­lung kurz­er­hand auf. Trotz­ki hat­te den Vertretern der anderen Parteien an einem Kongress schon im Okto­ber höh­nisch zugerufen:
Ihr seid Bankrot­teure, eure Rolle ist aus­ge­spielt. Schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte.

Dieser Ausspruch zeigt, von welchem Sendungs­be­wusst­sein die Bolschewi­ki unter der Führung von Lenin und Trotz­ki erfüllt waren: Sie allein bilde­ten die Speer­spitze der notwendi­gen geschichtlichen Entwick­lung. Sie allein hat­ten deshalb das Recht zu entschei­den, wer die Macht innehaben sollte und was zu tun war. Damit war schon hier der Same angelegt, der sich in der Herrschaft von Stal­in auf so unheil­volle Weise ent­fal­tete. Der Bürg­erkrieg war pro­gram­miert. In den kom­menden Jahren met­zel­ten sich “die Roten” und “die Weis­sen” gegen­seit­ig gnaden­los nieder, bis sich “die Roten” 1922 schliesslich endgültig durch­set­zten und die Sow­je­tu­nion geschaf­fen wurde.

Alle frei­heitlichen Impulse in der Gesellschaft geri­eten so unter die Räder: 1917 hat­ten sich im ganzen Land Arbeit­er- und Sol­daten­räte gebildet, die sog. “Sow­jets”, die eine Selb­stver­wal­tung von unten planten. Sie wur­den alle sehr rasch unter bolschewis­tis­che Kon­trolle gebracht, und ab sofort hiess es: Der bolschewis­tis­che Kom­mis­sar entschei­det, und son­st niemand!

1921 kam es zu einem let­zten Auf­bäu­men gegen die bolschewis­tis­che Vorherrschaft: Die gle­ichen Sol­dat­en und Matrosen, die der Okto­ber­rev­o­lu­tion 1917 zum Siege ver­holfen hat­ten, wandten sich in Kro­n­stadt, ein­er Inselfes­tung vor Pet­ro­grad, gegen die Bolschewiki:
Unter dem Mot­to „Alle Macht den Räten (Sow­jets) – Keine Macht der Partei“ forderten die Auf­ständis­chen eine Rück­nahme des dik­ta­torischen Ein­flusses der Kom­mu­nis­tis­chen Partei Rus­s­lands (KPR) auf die poli­tis­chen Entschei­dung­sprozesse Sow­jetrus­s­lands. Nach­dem ein Über­greifen der Revolte auf das Fes­t­land und weit­ere Teile Sow­jetrus­s­lands gescheit­ert war, nutzten die Auf­ständis­chen die Fes­tungsan­la­gen der Baltischen Flotte von Kro­n­stadt auf der Kotlin-Insel, die Sankt Peters­burg gegen Angriffe von West­en schützen soll­ten. (Wikipedia). In ihrem 15 Punk­te-Man­i­fest forderten sie u.a. Versammlungs‑, Mei­n­ungs- und Pressefreiheit.

Trotz­ki hat­te kein Musikge­hör und liess den Auf­s­tand durch die Rote Armee bru­tal nieder­schla­gen. Das war das Ende aller frei­heitlichen Hoff­nun­gen in Russland.

Von nun an entwick­elte sich der rus­sis­che Kom­mu­nis­mus in ein Instru­ment des Ter­rors gegen jegliche Frei­heit­sim­pulse. So liess Trotz­ki in der Ukraine auch die anar­chis­tisch geprägte Mach­no-Bewe­gung nieder­schla­gen, nach­dem diese der Roten Armee in der Ukraine zum Siege ver­holfen hat­te, und in Spanien liess Stal­in mit­tels der kom­mu­nis­tis­chen Partei das wohl ein­drück­lich­ste anar­chis­tis­che Pro­jekt während des spanis­chen Bürg­erkriegs zerstören.

Für Fritz Brup­bach­er war diese Entwick­lung, als er im Okto­ber 1917 begierig die neuesten Schlagzeilen der Zeitun­gen las, jen­seits seines Vorstel­lungsver­mö­gens. Neue Hoff­nung keimte in ihm auf, dass vielle­icht endlich doch noch eine neue Zeit der sozialen Gerechtigkeit anbrechen würde.

Dazu mehr in der kom­menden Folge nach der Juli-Som­mer­pause am Sa, den 6. August.

P.S. Auch Fritz Plat­ten wurde ein Opfer des stal­in­is­tis­chen Ter­rors. Nach vier Jahren Lager­haft wurde er am 22. April 1942 an Lenins Geburt­stag erschossen.

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