Alle Räder ste­hen still, wenn dein star­ker Arm es will”, hiess es in einem 1863 von Georg Her­wegh ver­fass­ten Gedicht. Es war die Visi­on und Hoff­nung der zwei­ten Inter­na­tio­na­le: Falls die Kapi­ta­lis­ten es wagen soll­ten, in Euro­pa einen gros­sen Krieg vom Zaun zu reis­sen, wür­de die inter­na­tio­na­le Arbei­ter­schaft zusam­men­ste­hen und ihn verhindern.

Im Som­mer 1914, als der ers­te Welt­krieg dann wirk­lich aus­brach, kam das bru­ta­le Erwa­chen: Das Vater­land rief, Sozia­lis­mus war gestern.

Fritz Brup­ba­cher hat­te sich schon seit Län­ge­rem kei­nen Illu­sio­nen hin­ge­ge­ben: Der gro­ße Krieg traf mich als einen Men­schen an, der alles Schö­ne, Gro­ße erträum­te, und ein Mini­mum von Zutrau­en hat­te in die Mensch­heit, in die Arbei­ter­schaft, die Inter­na­tio­na­le mit ein­ge­schlos­sen, dies Gro­ße und Schö­ne zu verwirklichen.

Bit­ter kom­men­tier­te er “den Bas­ler Mein­eids­kon­gress von 1912″:
Die Kriegs­ge­fahr war schon 1912 so groß, daß die Arbei­ter­in­te­ma­tio­na­le eine gro­ße Kriegs­ta­gung nach Basel ein­be­rief, die im Bas­ler Müns­ter tag­te und eröff­net wur­de durch einen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Regie­rungs­rat, der acht Jah­re vor­her ein Mili­tär­auf­ge­bot gegen strei­ken­de Arbei­ter erlas­sen hat­te, und die geschlos­sen wur­de von einem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Regie­rungs­rat, der ein paar Mona­te spä­ter die Poli­zei auf strei­ken­de Arbei­ter losließ.
Aber Tau­sen­de von Arbei­tern von der Schweiz, aus Frank­reich, Deutsch­land und Oes­ter­reich zogen nach Basel, wo man ihnen die Kno­chen der hei­li­gen Inter­na­tio­na­le zeig­te und den Pur­pur­man­tel des Sozia­lis­mus, wo man zum sound­so­viel­ten Male Kar­li Marx und Fried­rich Engels hei­lig sprach und das Maul voll Idea­lis­mus nahm — sich in den Kon­ven­ti­keln der Par­tei­häup­ter klar die Wahr­heit sag­te, daß nichts gesche­hen wer­de im Fal­le eines Krie­ges —, und vor den Mas­sen der Gläu­bi­gen nas­sen Auges schwor, daß man alles tun wer­de, den Krieg zu ver­hin­dern. (…) Man hat 1914 den Inter­na­tio­na­lis­mus nicht ein­mal ver­ra­ten — man kann nur ver­ra­ten, was man ein­mal besass.

Und bit­ter defi­nier­te er neu:
Patrio­tis­mus: Arbei­ter und Unter­neh­mer wer­fen sich auf die andern Völ­ker und berau­ben sie.
Klas­sen­kampf: Arbei­ter und Unter­neh­mer strei­ten sich um die Beu­te, die sie mit­ein­an­der geraubt.

Die­se Hal­tung des Pro­le­ta­ri­ats stürz­te ihn in eine eigent­li­che Sinnkrise.
Als … 1914 die Arbei­ter­schaft spon­tan nicht zum Sozia­lis­mus und der Revo­lu­ti­on, son­dern zum Sozi­al­pa­trio­tis­mus gekom­men war, ver­fluch­te unser­ei­ner den Gott, den er ange­be­tet, die Arbei­ter­schaft und den Sozia­lis­mus, in Grund und Boden hin­ein, stand mit lee­ren Hän­den und mit lee­rem Kop­fe da. Ekel erfass­te einen, Rat­lo­sig­keit, und man konn­te sich kaum Genü­ge tun in Belei­di­gun­gen sei­ner Majes­tät, dem Pro­le­ta­ri­at. Man hass­te den Kapi­ta­lis­mus und ver­ach­te­te das Pro­le­ta­ri­at, das den kapi­ta­lis­ti­schen Her­ren gedul­dig, ja sogar begeis­tert auf die Schlacht­fel­der folgte. (…)
Man frug sich ernst­haft : Ist es nicht gera­de­zu Pflicht, sich von einem sol­chen Pro­le­ta­ri­at schei­den zu las­sen, das nur einen Teil der Bour­geoi­sie bil­det? Wird es sei­ne scham­lo­se Unter­wür­fig­keit der Bour­geoi­sie gegen­über wie­der auf­ge­ben? Waren nicht eigent­lich alle Mas­sen gleich? 

Aber:  Bei allem Toben gegen die Pro­le­ten — konn­te ich mich nicht von ihnen los­rei­ßen. Ich hat­te zu lan­ge von ihnen Gro­ßes erhofft. Sie waren mei­ne letz­te gro­ße Hoff­nung gewe­sen. Und nun soll­te auch die­se letz­te Hoff­nung ver­sa­gen, und für immer? Es war ein biß­chen schwer, sie auf­zu­ge­ben. Aber man sol­le den Mut dazu haben. Alles ande­re sei Lüge. Ist es wirk­lich Lüge? Vie­les ging so als Pro­blem durch den Kopf, was eine Lösung nicht fand.

Brup­ba­cher schon­te auch sich sel­ber nicht: Aber man frug sich auch, ist man denn sel­ber nie Ver­rä­ter gewe­sen? Hat man nicht auch so oft Kon­zes­sio­nen gemacht, um nicht zugrun­de zu gehen? Das war die uman­ge­nehms­te Fra­ge, da sie einen sel­ber anging. Ich fing auf das hin an, mein Leben zu durch­stö­bern und fand, ich wäre eben­so gemein, wie das Pro­le­ta­ri­at. Bei den andern sehe man nur die Gemein­heit besser.

In den fol­gen­den Mona­ten such­te Brup­ba­cher wie­der einen neu­en Boden unter den Füs­sen, der ihm Halt geben würde:
Ich las Brie­fe, Memoi­ren, Bio­gra­phien, Roma­ne, Dra­men. Ich ver­grub mich in die Welt­li­te­ra­tur. Schrieb mir die Ein­fäl­le auf, die mir dabei kamen. Immer das Augen­merk gerich­tet auf das Akti­ve im Men­schen. Auf das, was nicht nur war, son­dern auch sein sollte. (…)

Trotz­dem ich in die Außen­welt kam, war doch das Zen­trum mei­nes Wesens in mei­nem Dach­zim­mer an der Ekke­hard­stra­ße, in Ein­sam­keit und unter Büchern, und ich war bestrebt, wenn ich in die Welt hin­aus­kam, die Medi­ta­ti­on mei­ner Stu­be in die Welt hin­aus­zu­brin­gen, in die Gesprä­che zu flech­ten, die ich mit den Men­schen hat­te, die ich traf. Es schien mir nicht die Zeit gekom­men für gro­ße Aktio­nen. Ich dach­te, vor­läu­fig sol­le jeder den­ken und sei­ne Gedan­ken den andern mit­tei­len, und damit sei für jetzt die ehr­li­che Wir­kung erschöpft.
Immer und immer wie­der kam mir als etwas Ekli­ges zum Bewußt­sein, wie groß und hohl die Wör­ter gewe­sen und wie bom­bas­tisch, die man vor dem Aus­bruch des Krie­ges gemacht. Ende Okto­ber war ich soweit beru­higt, daß ich wie­der arbei­ten konnte.

Sein Freund Max Tobler hat­te den Kriegs­aus­bruch in Ber­lin im August live erlebt und fass­te dar­auf­hin anläss­lich eines Vor­trags im Arbei­ter­bil­dungs­ver­ein,  der “Ein­tracht”,  vor über­füll­tem Saal sei­ne Ein­drü­cke so zusammen:
Für den Unbe­tei­lig­ten war es unge­mein depri­mie­rend, die­ses unge­heu­re patrio­ti­sche Volks­fest zu sehen in dem Augen­bli­cke, da es sich dar­um han­del­te, Euro­pa zu einem Lei­chen­feld zu machen. … Die gan­ze Bil­dungs­ar­beit; von Jahr­zehn­ten ist wie weg­ge­bla­sen. So müs­sen wir ernst­haft uns fra­gen, ob nicht unse­re gan­ze Arbeit neu und viel tie­fer wie­der zu begin­nen sei.

Brup­ba­cher hat­te schon 1911 einen lite­ra­ri­schen Klub gegrün­det, eine Art Dis­kus­si­ons­fo­rum und Begeg­nungs­stät­te für Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter, sozu­sa­gen einen ins 20. Jahr­hun­dert und ins Pro­le­ta­ri­at trans­po­nier­ten Salon der fran­zö­si­schen Auf­klä­rung. Man traf sich jeweils am Mon­tag­abend im “Weis­sen Schwän­li”, einem unschein­ba­ren Wirts­haus am Ein­gang zur Pre­di­ger­gas­se. Das Ziel:
sich mit der Ent­wick­lung des gan­zen Men­schen zu beschäf­ti­gen, über­haupt erst sol­che gan­ze Men­schen her­an­zu­bil­den, nicht mehr nur Kämp­fer und Pro­pa­gan­dis­ten: Ich fin­de immer mehr die soge­nann­te Kul­tur­ar­beit als das Wich­tigs­te. Wenn das Indi­vi­du­um geis­tig wächst, so wer­den ihm alle Fes­seln zu eng und es beginnt an ihnen zu rüt­teln. Öko­no­mi­sche Bedürf­nis­se wäl­zen nicht um, sie brin­gen Besitz­ver­än­de­run­gen. Die Unfrei­heit kann doch ver­ewigt sein. Aber Wis­sens­drang und Erkennt­nis sind anti­au­to­ri­tär. (Lang. Brup­ba­cher)

Hier setz­te Bru­pa­cher nach dem ers­ten Kriegs­schock wie­der ein, um “die Arbeit neu und viel tie­fer wie­der zu begin­nen.” Schon im Sep­tem­ber hat­te er die Bekannt­schaft mit zwei wei­te­ren Kriegs­geg­nern gemacht: Leon­hard Ragaz, dem reli­giö­sen Sozia­lis­ten, und dem Emi­gran­ten Leo Trotz­ki, der gleich nach Kriegs­aus­bruch von Wien nach Zürich gekom­men war.
Tage­buch­ein­trag Brup­ba­chers: Am 10.9. Trotz­ki und Ragaz ken­nen­ge­lernt. Ragaz erwar­tet Zusam­men­schluss aller Klas­sen gegen die Trusts. Er und Trotz­ki wer­den auf mei­nen Vor­schlag in der Ein­tracht über Tak­tik sprechen.

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Sams­tag, den 11. Juni.

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