Für Fritz Brupbacher wurde die Reise nach Archangelsk — eine weitere folgte ein Jahr später — in mehrfacher Hinsicht wichtig. Er führte wie Lydia das Leben eines russischen Verbannten, hatte aber als ausländischer Arzt gleichzeitig eine besondere Stellung. Farbig schildert er seine ersten Erfahrungen:
Auf das Gerücht hin, daß ein fremder Arzt komme, hatte sich unterdessen das Dorf mit Kranken gefüllt, die zum Teil bis von hundert Werst weit her kamen, um den fremden Arzt zu konsultieren und die Wunderwirkung seiner Medizinen, deren Ruf vorangegangen war, zu erproben. Buchstäblich hatten wir in den ersten Wochen nur ganz wenig Zeit für unsere eigene Patientin. Vom Morgen bis zum Abend strömte das Volk herbei, um sich kurieren zu lassen, und da mein Russisch nicht ausreichte, blieb der Agronom noch einige Zeit und diente als Dolmetsch (…)
Wir lernten so das vorrevolutionäre Bauernrußland aus nächster Nähe kennen. Lydia Petrowna und ich wohnten bei Bauern und den Wanzen der Bauern und kochten unsere Buchweizengrütze in dem großen Ofen der russischen Bauern. Und als der Schnee schmolz und das Eis des Flusses barst und unser ganzes Dorf umschwemmte, es zu einer Insel machte, ohne Verbindung mit der Außenwelt, da hungerten wir auch wie die Bauern, da wir zuwenig vorausgedacht und uns nicht verproviantiert hatten. In dieser Zeit haben wir ein einziges Mal etwas Fleisch bekommen, als in unserem Dorf eine Kuh starb. (…)
Die Hygiene in der Gegend war schrecklich. Wanzen zu Millionen. Man war in einem Meer von Wanzen. Ich tötete täglich einige hundert in meinem Zimmer, im Bett und in den Spalten der Holzwände. Das Wasser sah aus wie Urin, und man begriff, weshalb der russische Bauer so viel Tee, das heißt gekochtes und durch Tee etwas erträglich gemachtes Wasser zu sich nahm.
Der Bauchtyphus war endemisch, kroch von einem Haus des Dorfes zum andern, und wenn er damit fertig war, fing er wieder von vorne an. Knochentuberkulose massenhaft. (alle Auszüge aus Brupbacher, Ketzer)
Sein Aufenthalt nahm ihm aber auch die eine oder andere Illusion über “den russischen Bauern”:
Die Bauern waren nicht so märchenhaft golden, wie sie uns die russischen Sozialist-Revolutionäre geschildert. Glücklicherweise begleitete mich der Bruder von Lydia Petrowna, ein Staats-Agronom ; aber auch er hatte schwere Kämpfe mit den Bauern auszukämpfen um den Preis, den sie für die Pferde forderten. Manchmal mußten wir stundenlang markten, bis sie uns weiterführten. Da ich dann fast drei Monate unter diesen Bauern lebte, lernte ich sie ziemlich gut kennen. Verglichen mit den Schweizer Bauern, waren sie liebenswürdig, sogar lieb zum Teil. Sonst hatten sie aber viel Aehnlichkeit mit ihnen. Weder an Intelligenz noch an Schlauheit stunden diese russischen Bäuerlein des Nordens hinter unseren Schweizer Bauern zurück.
Eindrücklich und oft frustriert erlebte er den fundamentalen Unterschied zwischen der westeuropäischen kapitalistischen und der russischen vorkapitalistischen Lebensweise:
Gemeinsam allen Schichten war eine absolute Abwesenheit von Zeitbegriff und von Exaktheit. Ich gab in der Verbannung Arbeitern, die sich auf Examina vorbereiteten, Deutsch- und Französisch-Stunden. Immer bestellte ich sie auf vormittags zehn Uhr. Aber wenn sie abends um sechs bis zehn Uhr kamen, so hatte ich Glück. Ich habe auch nie ein Volk gekannt, das für diese Versäumnisse soviel schöne Ausreden, und immer neue, erfinden konnte. Mit ihnen zu arbeiten, war für uns zeitgewohnte Europäer eine Unmöglichkeit oder mindestens eine Qual.
All das waren natürlich nicht russische Rasseneigentümlichkeiten, sondern einfach vorkapitalistischer geistiger Ueberbau. Die Russen waren nicht dressiert durch den Kapitalismus. Davon kamen all ihre herrlichen und alle ihre fürchterlichen Eigenschaften. Das machte auch, daß wir Westeuropäer eine Art romantischer Liebe zu ihnen hatten. Wirklich fast alle. Freilich war unser Verhältnis zu ihnen etwas ambivalent. Wir hätten gerne ihre guten Eigenschaften, ihre wunderbare, unberechnete Affektivität auch bei den andern Nationen gesehen — gleichzeitig aber begriffen wir, daß man mit diesen Menschen als Zeitmensch einfach nicht leben könne.
Gleichzeitig musste er erfahren, dass Lydia Petrownas politischer Weg und der seine mehr und mehr auseinanderdrifteten. Lydia lehnte die kapitalistische Entwicklung im Westen immer radikaler ab:
Sie entwickelte immer mehr den im Keim schon längst vorhandenen russischen Nationalismus, eine Art linksgerichteten Slavophilismus. Sie sah auch die guten Seiten des Kapitalismus, seine Arbeitsproduktivität usw. nicht. Ihr Verhältnis zu der Arbeiterschaft wurde immer blasser, und sie setzte alle ihre revolutionären Hoffnungen einzig und allein auf die russische Bauernschaft, während ich wohl die russische Bauernschaft als einen revolutionären Faktor einschätzte, die Arbeiterschaft aber doch für die eigentliche Grundbasis einer sozialistischen Ideologie betrachtete. So war man an sehr wichtigen Punkten verschieden eingestellt. Sie war verwachsen mit dem russischen Volk, ich mit dem internationalen Proletariat.
Aber erst 1916 rang sich Brupbacher schliesslich zu einer Trennung durch, und fragte sich noch im Alter: Was war eigentlich dieser Wahnsinn der Treue zu Lydia Petrowna?, mit der er zwar einen intensiven Briefwechsel führte, die er aber, wenn alles gut ging, höchstens einmal im Jahr für ein paar Wochen sah?
Nach seiner Rückkehr warteten neue politische Sturmwolken auf ihn. Dazu mehr
am kommenden Samstag, den 28. Mai
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Hans Kästli
Mai 21, 2022
Dank für diesen eindrücklichen Brupbacher !