1909 geriet Brupacher in eine persönliche Krise.
Da war die stetige Überlastung als sozialistischer Arzt:
Das Leben eines Arztes ist immer unruhig. Er ist immer auf Wache. Kommt man abends heim, so wagt man nie recht, die Schuhe auszuziehen. Kaum hat man einen ausgezogen, so läutet entweder die Glocke der Wohnung oder das Telephon. Es kam dazu, daß ich in meinem Quartier der einzige Arzt war. Am Tag kamen auch andere zu uns ins Indianerviertel. Nachts hatte man das Vergnügen, auch für diese aufzustehen. Die älteren Kollegen hängten oft ihr Telephon ab, und ihr Haus hatte eine Abstellglocke. Ich konnte mir damals diesen Luxus nicht leisten. Daß ich Sozialist war, gab den Leuten das Recht, mich noch ein bißchen mehr zu quälen als andere Aerzte, und mir auch mehr Rechnungen schuldig zu bleiben. (alle Auszüge aus “Brupbacher. Ketzer”)
Und da war die politische Sinnkrise:
Die Politik nahm viel Zeit weg. Ermüdete. Außerdem die affektive Inanspruchnahme. Es war eine ewige Hetze. … Ich hatte gemerkt, dass die Persönlichkeit litt durch das ständige Popularisieren. Ich bekam die Psychologie des Schulmeisters, der immer wieder die Aufgaben der Sechsjährigen durchnehmen muß. Wenn ich dachte, so war es rhetorisch. Es dachte in mir immer, als stünde ich vor einem Publikum. Es fehlte nur noch, daß ich mich dabei angeredet hätte : «Werter Genosse!»
Die Lösung für den Arzt bestand darin, sich einen Mitarbeiter und eine geheime Zweitwohnung zu suchen. Den Mitarbeiter fand er bald, die Wohnung nicht:
Ich kriegte auf Inserate immer viele Offerten — aber niemand wollte mich, wenn ich meinen Namen nannte, als Mieter nehmen. Mein politisches Renommee war so schlimm, daß jeder Bürger sich weigerte, mich aufzunehmen. Ich fand weder eine Berufswohnung noch eine Privatwohnung. Uebrigens verweigerte mir später auch eine Bank den Tresor.
Aus dieser Not rettete ihn schliesslich sein Freund Max Tobler, indem er sich als Mieter ausgab.
Inzwischen war aber noch eine weitere Sorge dazugekommen: Die Verhaftung von Lydia Petrowna durch die Ochrana, die zaristische Geheimpolizei.
Es waren schon ein paar Monate früher etwa vierzig Bauern, die mit Lydia Petrowna zusammengearbeitet hatten, gehängt worden. Man kann sich meinen Zustand vorstellen. Die jahrelange Ueberanstrengung hatte in mir eine Art Leidenszustand erzeugt, der durch das letzte Erlebnis zu einer noch besondern Höhe gesteigert wurde, der sich jetzt zu etwas Subchronischem entwickelte und das Gefühl erzeugte, daß das Leben überhaupt eigentlich ein Leiden sei, und daß man über dem realen Leben ein anderes Leben sich schaffen müsse.
Die tiefe Krise brachte ihm aber auch neue Erkenntnisse:
Uebrigens brachte dieses Durchmachen von so viel Leiden die Quelle alles Lebens erst recht zum Durchbruch und schüttelte von mir ein Weilchen alles Kleinliche und Unbedeutende ab. Durch die Arbeit des Tages verläuft man sich in allerlei Kleines und Unbedeutendes und vergißt am Ende gar, daß alle Arbeit und der ganze Alltag doch nur da sind, um das ganze komplizierte Wesen Mensch sich ausleben zu lassen. Daß er der Sinn und Zweck des Lebens ist und die ganze Politisiererei nur ein Mittel, und daß dieses Mittel nur die ganz ernst nehmen und den Menschen vergessen, die nichts auszuleben haben als ein bißchen Eitelkeit, Ehrgeiz und Streberei.
Die Zweitwohnung erwies sich für Brupbacher als ein Segen: Man macht sich keine Vorstellung, wie schön die Einsamkeit ist, wenn man jahrelang nie allein, nie ungestört sein durfte. Da konnte ich nun stundenlang machen, was ich wollte. Der Verstand erwachte in mir. Alle Interessen erwachten in mir.
Und diese Interessen führten ihn auch nach Paris. Er besuchte Museen und entdeckte die Werke von Gustave Moreau, El Greco und Botticelli. Die Gotik von Notre-Dame beeindruckte ihn tief und er bewunderte die Schönheit der Sainte-Chapelle, in der die leidende Kreatur durch die Schönheit architektonischer Formen und durch Farben geheilt wird.
Als Materialist hielt er zwar fest: Das Wahre, Gute, Schöne hat keinen göttlichen Ursprung, — und doch erkannte er diese Werte als grundlegend für das Menschsein, wenn er anfügte: Es gibt Zeiten, wo ein jeder von uns infolge der vielen Festreden, in denen diese Wörter vorkamen, diese Wörter verachtet. Mir scheint es, mit dem größten Unrecht. Nur müssen wir sie erst immer wieder erleben, bevor wir sie aussprechen dürfen.
Im Spätwinter 1910 traf die Nachricht ein, Lydia Petrowna sei an Hungertyphus erkrankt. Erneut eilte ihm Max Tobler zu Hilfe, indem sich Brupbacher unter dessen Namen einen Pass besorgte, den Koffer packte und über Warschau, Moskau, Archangelsk in das Dorf Ustwaschka reiste, — auf der letzten Etappe sechs Tage lang per Schlitten durch Ebenen, Wälder und über das Eis der Flüsse.
Dazu mehr in der nächsten Folge am Samstag, den 21. Mai.
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