Der wohl wichtig­ste Fre­und Brup­bach­ers war Max Tobler:
Max Tobler wohnte mehr als zehn Jahre lang, 1903 bis 1914, mit Brup­bach­er zusam­men an der Baden­er­strasse. Er war zwei Jahre jünger, hat­te in Genf Natur­wis­senschaften studiert, war als Stipen­di­at an der zool­o­gis­chen Sta­tion von Neapel gewe­sen und hat­te als Assis­tent der Zoolo­gie an der Uni­ver­sität Giessen gear­beit­et. (Lang, Brup­bach­er)

Brup­bach­er wid­mete seinem Fre­und unter dem Titel “Der Prachts­men­sch Max Tobler” ein langes Kapi­tel, in dem er dessen Werde­gang zum sozial­is­tis­chen Mitkämpfer mit seinem trock­e­nen Humor schildert:
Alles schien im bürg­er­lichen Sinn nach außen dur­chaus zu klap­pen, und wäre nor­maler­weise zu erwarten gewe­sen, daß Max als ‘Pro­fes­sor an irgen­dein­er Uni­ver­sität geen­det hätte. Aber bei Max ging nichts nor­maler­weise. Er hat­te die Gewohn­heit, zu denken. Es war schon ein bißchen abnorm gewe­sen für einen Bürg­er­sohn aus guten Ver­hält­nis­sen, daß er Zoologe und nicht Jurist bei der Haupt­bank seines Kan­tons gewor­den war. Max inter­essierte son­der­bar­erweise die Wahrheit an und für sich. Wahrheit ohne Ren­dite. Und das war sein Unglück im bürg­er­lichen Sinn.
Später stellte es sich her­aus, daß Max noch andere Laster hat­te. Er war über­mäßig mitlei­dig und begriff Ungerechtigkeit wed­er in der Natur noch in der Gesellschaft. Als er eine Malerin ent­deck­te, die trotz viel Tal­ent hungern mußte, und sah, daß das mit der Sozi­olo­gie zusam­men­hing, ergriff ihn das so sehr, daß er anf­ing, über die Gesellschaft nachzu­denken, was in unseren Kreisen, bei den Schweiz­er Bürg­ern, gar nicht üblich war, und er fand so viele Schön­heits­fehler an der bürg­er­lichen Gesellschaft, daß es ihm schien, sie sei aller­min­destens arg zu reformieren. Er ent­deck­te bei dieser Gele­gen­heit die Arbeit­er­be­we­gung, die moralis­chen Schriften von Tol­stoi und das «Kap­i­tal» von Karl Marx. Von dem Moment an wandte er sich ab von der neuseeländis­chen und auch den andern Sch­neck­en und suchte einen Weg, die Welt und sich zu verbessern  .…

Nach ein­er Art “Schnup­perkurs” in der englis­chen Arbeit­er­be­we­gung wurde er “dank sein­er glänzen­den Fed­er” Redak­tor des Volk­srechts, dem Zürcher sozialdemokratis­chen Parteior­gans. Aus dem pro­vi­sorischen Einzug bei Brup­bach­er — eine finanzielle Notlö­sung — entwick­elte sich eine kreative langjährige Arbeits­ge­mein­schaft, die Brup­bach­er in seinen Mem­oiren so ein­drück­lich beschreibt, dass sie hier aus­führlich zitiert sei:
Es war natür­lich ein unschätzbar­er Gewinn, einen solchen Kam­er­aden zu haben, wie Max es war. Wir besprachen immer ganz offen, ohne alle Hin­tergedanken, alles miteinan­der, Poli­tik, Kun­st, Lit­er­atur, Philoso­phie. Man war immer in ein­er Gesellschaft, wie sie andere Leute nur sich aus­denken kön­nen für eine kün­ftige ide­ale Gesellschaft. War auch Lydia Petrow­na bei uns, so war nur ein «unsere­in­er» mehr. Wir lebten zwar miteinan­der, aber eigentlich jedes Indi­vidu­um doch für sich.
Daß Max und ich uns nie duzten, trotz beständi­gem Zusam­men­leben, war ein Sym­bol für den Respekt, den wir vor­einan­der hat­ten, ein Sym­bol für die Frei­heit, die wir einan­der ließen. Wir lebten eben­so sehr nebeneinan­der wie miteinan­der. Und da wir bei­de mehr Willen zur Macht für unsere Idee forderten als Macht und Ehre für uns, so störte uns auch nie die ger­ing­ste Spur von Neid. Man freute sich über einen jeden Erfolg des Fre­un­des. Eine solche Har­monie ver­lieh natür­lich jedem von uns eine große Kraft und Sicher­heit in der Bewe­gung.
Da wir einan­der gut kan­nten, merk­ten wir auch bald, wo der Platz eines jeden von uns war. Es war für uns drol­lig, zu merken, daß bei jed­er Tätigkeit ein jed­er von uns seine Nuance hat­te. Bei Max trat immer in den Vorder­grund das Gefühl der Sol­i­dar­ität, das Sozial­ge­fühl; immer wieder betonte er die gegen­seit­ige Hil­fe, während meine Note die Revolte war. Bei Max war die ganze übrige Per­sön­lichkeit ein­ge­ord­net in die gegen­seit­ige Hil­fe, bei mir um die Revolte herum. Ich war viel aggres­siv­er, er bei aller Bes­timmtheit tol­er­an­ter.
Ich moral­isierte. Er war seinem ganzen Wesen nach moralisch, eine schöne Seele. Ich hat­te eine Unmenge von Ein­fällen, die oft der Beschnei­dung und Har­mon­isierung bedurften. Ich unter­warf mich bald sehr gern — und sie fast suchend — sein­er bändi­gen­den Kor­rek­tur, nicht nur, wenn er meine oft ganz wildgewach­se­nen und aller Gram­matik spot­ten­den Sätze zivil­isierte, son­dern auch in allen möglichen andern Din­gen.
Er paßte deshalb aus­geze­ich­net an die Spitze der Zeitung, ich als Kämpfer an alle exponierten Stellen, wo etwas vielle­icht à out­rance, bis zur Uebertrei­bung, bis zur Ungerechtigkeit zu vertreten war. Und weil wir bald gemerkt, welch­es die richtige Stelle eines jeden von uns war, und daß wir bei­de nötig waren, war uns unsere Ungle­ich­heit nicht etwas Stören­des, son­dern etwas Befruch­t­en­des. Sein ganzes Wesen hat­te etwas von der Lin­ie, meines von tausend Punk­ten oder Raketen und Funken. Ich war Expres­sion­ist, er fast eine Art Klas­sik­er.

Ein schönes Zeug­nis ein­er sich gegen­seit­ig befruch­t­en­der und ergänzen­der Fre­und­schaft!

1910 schied Tobler wegen Dif­feren­zen mit der sozialdemokratis­chen Parteileitung aus der Redak­tion aus und begann noch mit 34 Jahren ein Medi­zin­studi­um.

Um diese Zeit geri­et auch Brup­bach­er in eine Sinnkrise, und Lydia Petrow­na wurde in Rus­s­land ver­haftet.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am Sam­stag, den 14. Mai.

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