Fritz Brupbacher hatte einen grossen Bekanntenkreis, aber wenige Freunde. Karl Lang schreibt dazu in “Kritiker, Ketzer, Kämpfer”:
Natürlich war er daran nicht unschuldig. Er stellte hohe Ansprüche, erklärte nicht unbesehen jeden Genossen, und mochte der sich auch zu direkter Aktion und Generalstreik bekennen, zu seinem Freund. Vollends unmöglich war ihm dies bei den Parteigenossen, die in ihrem Privatleben die kleinbürgerlichen Ideale jener Zeit pflegten. Oft wurde ihm dies als Überheblichkeit oder gar als Zynismus ausgelegt, denn er konnte diese Leute mit beissendem Spott blossstellen. Brupbacher war sensibel und empfindlich, erschien seiner Umgebung oft distanziert, war dies jedoch oft nicht aus Geringschätzung, eher aus Achtung für den Mitmenschen, auch aus einer gewissen Lust an der Einsamkeit oder mindestens aus Abscheu vor leerer Betriebsamkeit.
In seiner Autobiographie geht Brupbacher auf drei wirklich freundschaftliche Beziehungen ein: zu Vera Figner, James Guillaume und Max Tobler. Alle drei verdienen einen etwas ausführlicheren Kommentar.
Vera Figner, die ihn tief beeindruckte, lernte er im Sommer 1907 kennen. Wie Lydia Petrowna hatte auch sie in Zürich Medizin studiert, kehrte dann nach Russland zurück und schloss sich dem radikalen Flügel der Narodniki an, der für das Attentat auf Zar Alexander II. 1881 verantwortlich zeichnete.
Neben der Arbeit in den terroristischen Kreisen verrichtete sie allgemein sozialistische, insbesondere auch antimilitaristische Propaganda, und es sollen vor allem die Studenten und Offiziere, wie der spätere zaristische Ministerpräsident Plehwe sich ausdrückte, vor ihr den Kopf verloren haben. Sie war schon in ihrer Jugend eine bezaubernde Persönlichkeit.
Nach dem Attentat auf Alexander II. und der Exekution der meisten hervorragenden Mitglieder der Partei trat Vera Figner an die Spitze derselben, arbeitete zwei Jahre unter ständiger Lebensgefahr und wurde dann von einem Spitzel, den sie für ihren Freund hielt, für 10,000 Rubel an die zaristische Polizei verraten, kam vor Gericht, vor dem sie eine berühmte revolutionäre Anklagerede gegen das System hielt. Sie wurde zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglichem Gefängnis begnadigt. Zweiundzwanzig Jahre verbrachte sie teils in der Peter-Pauls-Festung, teils in der Schlüsselburg, ständig mutig kämpfend für die primitivsten Menschenrechte. (Brupbacher, Ketzer)
1904 wurde sie nach Archangelsk verbannt und durfte 1906 schliesslich Russland verlassen. Brupbacher zeichnete nach ihrem mehrmonatigen Aufenthalt bei ihm ein eindrucksvolles Porträt:
Sie war damals 55 Jahre alt, sah aber sehr jugendlich aus, vielmehr wie eine reife Gymnasiastin, als wie eine Frau von ihrem Alter. Im ersten Moment sah man ihr von den schweren, jahrzehntelang dauernden Leiden nichts an als einen gewissen allzu zarten Ausdruck ihres Gesichtes. Aus dem Gesicht strömte eine unendliche Liebenswürdigkeit. Sie sah aus wie geladen von Sensibilität und Energie. Und hinter all dem lag eine Art Grauen vor dem, was sie und ihre Genossen durchgemacht, und trotzdem sehr viel Anhänglichkeit an das Leben der zweiundzwanzig Jahre Gefängnis. Nur so kann ich mir ihr eigenartig rätselhaftes Wesen erklären, das gemischt war aus einer grenzenlosen Fähigkeit, alle leidende Kreatur mitzuempfinden, und einer Art weltfremder Wildheit, wenn man es so nennen darf. Ich denke, wir, die wir nicht zweiundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht, können einen solchen Menschen überhaupt nie ganz verstehen. …
Sie hatte eine große Fähigkeit, gut, voll Liebe zu sein zu den Menschen, in einem Maße, wie ich sie sonst nie gesehen — und gleichzeitig war sie dankbar für die kleinste Liebenswürdigkeit, die man ihr erwies. Sie lebte einmal einige Monate bei uns, und da erlebten wir aus der Nähe ihre unendliche Fähigkeit zur Freundschaft und Kameradschaft und gleichzeitig ihre große Sehnsucht nach Einsamkeit und Ruhe, nach gänzlicher Abgeschiedenheit von der Welt, nach Alleinsein mit der Welt, von der wir nichts verstunden, jener zweiundzwanzigjährigen Gefängniszeit. Es war, als ob diese Zeit eine Art verlorener Liebe für sie geworden wäre. Sie ertrug, wie sie einmal sagte, die Menschen nur eßlöffelweise. Aber, wenn sie bei ihnen war, überschüttete sie sie wie mit Blumen. Nie sah ich einen Menschen mit einer solchen Fähigkeit, Menschen zu bezaubern. …
Offensichtlich spürte er eine tiefe Seelenverwandtschaft mit ihr, wenn er schrieb:
Sie wirkte als Revolutionärin durch die ganze Art ihres Seins. Sie personifizierte den Charakter, den ein Revolutionär haben muß ; sie war frei von alledem, was Parteimenschen zu etwas Schrecklichem, etwas Ekligem macht. Sie besaß die Reinheit, die die heutigen Parteileute verlachen. Sie war, kurz gesagt, anständig, ehrlich, offen, tapfer, ein ganzer Freund, ein ganzer Kamerad. Freundschaft und Parteischaft waren bei ihr nicht zweierlei Dinge. Nie hätte sie einen Freund im Interesse der Partei — wie man das heute fordert — verraten. Weil die Partei zu ihrer Zeit nicht ein Verein war, sondern eine Gruppe von Freunden, die die Welt verändern wollten, so konnten überhaupt Freundschaft und Partei nicht miteinander in Konflikt kommen. …
Sie hatte viele, viele Freundschaften, die sie pflegte, wie ein begeisterter Gärtner seine Blumen. Sie war einer der wenigen Menschen, die ich in der Politik angetroffen, der nicht nur «Staatsgeschäfte» zu besorgen hatte, sondern die einzelnen Menschen selber und ihre Entwicklung und ihr Leben als das größte Staatsgeschäft betrachtete. Und wer hätte besser als sie für die politischen Gefangenen sorgen können? Lebten doch zweiundzwanzig Gefängnisjahre in ihr. …
Sie war für uns alle in den Jahren, die sie im Westen verbrachte, eine strahlende und wärmende Sonne. Sie verkörperte das Beste, was je die revolutionäre Bewegung an Menschengeist und Menschengemüt geschaffen.
Vera Figner kehrte 1915 mitten im Krieg nach Russland zurück.
Nach der Februarrevolution 1917 amnestiert, leitete sie das Komitee zur Hilfeleistung für befreite Sträflinge und Verbannte, das 2 Mio. Rubel an ca. 4.000 Menschen verteilte. Sie war Mitglied der Konstituante, die am 19. Januar 1918 von den Bolschewiki aufgelöst wurde. (Wikipedia)
Brupbacher besuchte sie 1921/22 mehrmals in Moskau und hielt fest:
Wie sie aufrecht gewesen der zaristischen Regierung gegenüber, so war sie es gegenüber der bolschewistischen.
Einen ähnlichen seelischen Gleichklang erlebte Brupbacher auch mit James Guillaume, den er anlässlich eines Besuchs bei Peter Kropotkin kennengelernt hatte. Dieser Freundschaftsbeziehung ist die nächste Folge
am Samstag, den 30. April gewidmet.
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