Eines Tages wurde den Soldaten, die von der Regierung zur Niederschlagung des Streiks in der Automobilfabrik Arbenz in Albisrieden eingesetzt wurden, ein scheinbar religiöses Traktätchen, “Die Friedensglocke”, in die Hand gedrückt. Der Inhalt war allerdings alles andere als religiös und friedlich:
Industriearbeiter, Bauernsöhne! Lasst euch nicht aufhetzen gegen die Streikenden, verweigert den Gehorsam, wenn man euch gegen die Streikenden führt! Als man Euch das eidgenössische Ehrenkleid, als man Euch die Waffe in die Hand gab, sagte man, es gelte die Verteidigung unserer Landesgrenzen. Jetzt solltet ihr gewillt sein, gegen Eure Landsleute, gegen Eure Brüder zu marschieren? Nimmermehr!
Es war beileibe nicht der erste Einsatz des Militärs gegen streikende Arbeiter in der Schweiz. Schon 1904 beim Tunnelbau am Ricken und beim Maurerstreik von La Chaux-de-Fonds sorgten Soldaten “für Ordnung”:
Die Vertreter sämtlicher Gewerkschaften von La Chaux-de-Fonds stellten sich auf die Seite der Streikenden, und ein unerwartet grosser Teil der Bevölkerung bezeugte ihre Sympathie. Auf einer Anhöhe über der Stadt wurde im Freien eine Gemeinschaftsküche errichtet, und die reichlich fliessenden Geld- und Lebensmittelspenden liessen den Streik für mehrere Wochen als gesichert erscheinen. Die Zeitungen aller politischen Färbungen hatten im übrigen sehr wenig Aufregendes zu berichten.
Trotzdem bot der neuenburgische Staatsrat am 1. August auf Ersuchen der Unternehmer Truppen auf, angeblich um eine kleine Anzahl von Arbeitswilligen an ihren Arbeitsplätzen zu sichern. La Chaux-de-Fonds wurde militärisch besetzt … Die Massnahmen des militärischen Kommandanten riefen in der Arbeiterschaft Erbitterung hervor, aber nachdem eine grosse Anzahl von Streikenden, darunter Mitglieder der Streikleitung, verhaftet, die Gemeinschaftsküche im Infanteriesturm genommen … war, nahm die Gewerkschaft schliesslich die Bedingungen der Unternehmer an. (aus einer Biografie über den Sozialdemokraten und Dienstverweigerer Charles Naine)
Fritz Brupbacher zog aus solchen Vorkommnissen den Schluss, dass die Armee wegen Zweckentfremdung abgeschafft gehöre, und gründete 1905 die “Antimilitaristische Liga”, die sich bald schweizweit organisierte. In einer Resolution hielt sie fest:
Die Antimilitaristische Liga erstrebt als Endziel die völlige Abschaffung des Militärs. Ihre Mitglieder sind der Überzeugung, dass ein Zeitalter wahrer Menschlichkeit erst dann anbrechen wird, wenn diese barbarische Institution verschwunden ist … Um die bürgerliche Gesellschaftsordnung zu stürzen, ist es notwendig, dass der bürgerlichen Klasse ihr Gewaltmittel, das Militär, entrissen werde.
An einer Versammlung sangen die Teilnehmer inbrünstig das vom Anarchisten Erich Mühsam nach der Melodie von “Rufst du mein Vaterland” komponierte “Bundeslied der Schweizerischen Antimilitaristischen Liga”, aus dem hier zwei Strophe zitiert seien:
Schwielhändig, russgeschwärzt, Steht die Armee beherzt, Zur blutigen Tat.
Arbeitsmann, wem zu Nutz Trägst du den Waffenputz?
Ach, nur fürs Kapital Bist du Soldat!
Arbeitsmann, Proletar! Gegen der Brüder Schar Zielt dein Gewehr!
Leih nicht die Arbeitshand Trügrischem Vaterland,
Das nur die Reichen schützt Bleib fern dem Heer!
Brupbacher war der Meinung, dass die Schweiz keine äusseren Feinde mehr kenne, und dass im Ernstfall das Proletariat der umliegenden Staaten sich weigern würde, die Waffen gegen die Eidgenossenschaft zu erheben. Umso schockierender sollte für ihn später die kalte Dusche sein, als 1914 die Solidarität unter den Arbeitern von nationalen Hochgefühlen hinweggeschwemmt wurde …
Kein Musikgehör für diese Argumentation hatte die sozialdemokratische Führung. An einem ausserordentlichen Parteitag im Januar 1906 in Olten wurden die Antimilitaristen rundum verdammt:
Jene Leute, welche heute unter der Arbeiterschaft ihr desorganisierendes Wesen treiben, sind Anarchisten, welche die Rebellion weniger gegen das Bürgertum … vorbereiten, als gegen uns Sozialdemokraten. (…) Die Antimilitaristen sind keine Partei, sondern eine Sekte, welche niemals in den breiten Schichten des Volkes Boden fassen wird, aber die Propaganda für die Sozialdemokratie ausserordentlich erschwert. Lassen wir dieses Geschwür nicht weiterfressen zum Schaden der Partei.
Die Positionen der reformistischen Sozialdemokraten und der revolutionären Sozialisten standen sich unversöhnlich gegenüber. Während die einen den Arbeitskampf innerhalb der bestehenden Demokratie führen wollten, hielt Brupbacher dagegen:
Die Bürger bleiben nur solange Demokraten und Pazifisten, als ihr Profit und ihre Macht nicht bedroht sind. … Die Gewalttätigkeit der Bürger ist unvermeidlich. Die Demokratie ist eine Schwindel oder so lange eine Tatsache, als man uns nicht fürchtet. Sobald der Bürger sieht, dass wir die Mehrheit kriegen mit dem Stimmzettel, werden sie uns das Wahlrecht nehmen, und auf diesen Zeitpunkt müssen wir uns vorbereiten. Sie werden die Armee gegen uns verwenden, wie sie es in den Streiks schon immer getan, und deshalb müssen wir die Disziplin in der Armee untergraben, die Arbeiter veranlassen, sich nicht missbrauchen zu lassen gegen ihre Klassengenossen.
Zu diesem Zweck publizierten die Antimilitaristen die Monatszeitung der “Vorposten”, in dem neben den Meldungen über Dienstverweigerer auch über die Behandlung der Soldaten durch Vorgesetzte und über Militäreinsätze gegen Arbeiter berichtet wurde. Das Verbreiten der Zeitung war gefährlich: Wegen eines Hausierergesetzes war der Verkauf auf der Strasse oder in Wirtshäusern verboten. Wer erwischt wurde, riskierte die Entlassung an seinem Arbeitsplatz. Brupbacher war zwar selbständig, aber
Die Unternehmer verboten den Arbeitern, sich von mir ärztlich behandeln zu lassen, entliessen die Arbeiter oft, wenn sie zu mir in Behandlung kamen. Die Unfallversicherungen machten von ihrem Recht Gebrauch, sogenannte Zufallsabzüge zu machen bei Patienten, die zu mir kamen. Den meisten Arbeitern, die mit einem Unfall zu mir kamen, wurden zwanzig Prozent des Lohnes abgezogen.
Dem “Vorposten” war kein langes Leben beschieden. Aber Brupbacher war schon mit dem nächsten Publikationsprojekt beschäftigt, — der Herausgabe der Monatszeitschrift “Polis”.
Doch bevor wir uns damit auseinandersetzen, besuchen wir Brupbachers Ehefrau, Lydia Petrowna, in Russland, — und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 2. April
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Max Ziegler
Mrz 26, 2022
Danke für die wertvolle Informationen zur Vorgeschichte und Entwicklung von Sozialdemokratie / Streikbewegung / Armee…