Im Anschluss an den Missbrauchskandal innerhalb der Katholischen Kirche sah sich Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel genötigt, zu einer eloquenten Verteidigung besagter Institution auszuholen. Allerdings mit einer Einschränkung: Seine Verteidigung gilt nur der konservativen Kirche, die allein noch den Mut habe, gegen die säkularen “Woke”-Tyrannen aufzustehen. Denn diese wollten bekanntlich eine Kirche, die sich den “Woke”-Götzen unterwirft. Dagegen gelte es, als wahrer Christ anzukämpfen und sich auf die Ursprünge des Christentums zu besinnen:
Wo bleibt der urchristliche Kampf- und Freiheitsgeist?
Es braucht den Widerstand der Christen und ihrer Kirchen gegen die neuen säkularen Heilslehren in der Nachfolge der Französischen Revolution. Anstatt sich zu verkriechen oder dem Zeitgeist zu huldigen, sollten die Katholiken und die Reformierten Gegensteuer geben, die Unabhängigkeit ihrer Kirchen und ihrer Botschaft verteidigen. Ein „wokes“ Christentum ist keines, und ohne das Christentum verliert der Westen seine Seele.
Worin bestand denn dieser urchristliche Kampf- und Freiheitsgeist? Auch da weiss das inofizielle SVP-Sprachrohr bestens Bescheid:
Gegen die Helden- und Übermenschenmoral der klassischen Antike predigten sie die unausweisliche Verlorenheit, die Verworfenheit des Menschen. Niemand soll sich einbilden, er sei in moralischer Hinsicht etwas Besseres als der andere. Egal, wie wir uns mühen, anstrengen und optimieren, wir bleiben geschnitzt aus krummem Holz. Nur Gott, nicht der Mensch kann den Menschen erlösen.
Ohne das Christentum verliert der Westen seine Seele!, posaunt Roger Köppel also in die Welt, — und setzt selbstverständlich dieses Christentum mit der konservativen Katholischen Kirche gleich, die allein noch mutig und unentwegt den neuen Götzenanbetern die christliche Glaubenslehre entgegenhalte.
Ja, wenn es denn so einfach wäre … Was versteht der Weltwoche-Chefredaktor unter “der christlichen Glaubenslehre”? Das Apostolische Glaubensbekenntnis? Die Überzeugung, dass Jesus am Kreuz für unsere Sünden gestorben sei und uns durch sein Opfer mit Gott wieder versöhnt habe? Dass Gott seit Anbeginn die Menschheit in “Gerettete” und “Verdammte” eingeteilt hat, so wie es Köppels Vorbild, Jean Calvin lehrte? Dass gemäss Luther nur der Glaube rettet, und nicht die Werke? Dass die Kindstaufe Sinn/keinen Sinn macht? usw. usw.
Schon allein die Tatsache, dass es heute eine unübersehbare Anzahl von Konfessionen, Denominationen und kleinen Gruppen und Grüppchen gibt, die alle ihre eigene Ansicht darüber haben, was es denn heisst, richtig zu glauben und ein “wahrer Christ” zu sein, sollte deutlich machen, dass man nicht vom Christentum, sondern höchstens von “Christentümern” sprechen kann.
Aber das Problem geht noch viel tiefer: Diese “Christentümer” haben sich erst im Laufe der ersten Jahrhunderte langsam herauskristallisiert und sich schliesslich zu Dogmen verfestigt, z.B. zum Apostolischen Glaubensbekenntnis. Anstatt das “echte Christentum” à la Roger Köppel auf tumbe Weise der menschlichen “Selbstvergottung” gegenüberzustellen, — und selbstverständlich gehören nach ihm Aufklärung und Französische Revolution dazu — , macht es vielleicht mehr Sinn, sich einmal zu fragen, was die Forschung denn heute über den vom Weltwoche-Chefredaktor beschworenen “urchristlichen Kampf- und Freiheitsgeist” zu erzählen weiss.
Genau das gedenkt der birsfaelder.li-Schreiberling in den kommenden Folgen zu tun. Die Publikationen zur Entstehung einer neuen — der christlichen — Religion füllen ganze Bibliotheken. Der Laie hat nicht die geringste Chance, die Übersicht zu behalten. Aber ab und zu kommt es einem oder einer Gelehrten in den Sinn, bestimmte Forschungsergebnisse nicht im kleinen akademischen Zirkel zu bewahren, sondern sie einem breiteren Publikum vorzustellen, — wie zum Beispiel der amerikanische Religionswissenschafter Bart Ehrman, der mit seinen Büchern wie “Misquoting Jesus”, “Did Jesus exist?”, “How Jesus became God” oder “The Orthodox Corruption of Scripture” einen grossen LeserInnen-Kreis erreicht.
Zwei Bücher, die den Schreiberling besonders faszinieren, stammen von Gregory J. Riley, Professor für das Neue Testament und das frühe Christentum an der Claremont School of Theology in Kalifornien: “The River of God” und “One Jesus, Many Christs. How Jesus Inspired Not One True Christianity, But Many”.
Er wird deshalb in den kommenden Folgen daraus ein paar interessante Erkenntnisse zur Entstehung des frühen Christentums vorstellen für all jene, die dummen Geschwätzes überdrüssig sind.
Und da darin weder Roger Köppel noch die Katholische Kirche eine Rolle spielen, werden sie demnächst unter dem Titel “One Jesus, Many Christs” geführt.
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