Wenn man sich die hellen Seiten der Katholischen Kirche vergegenwärtigen will, drängt sich ein Aspekt rasch in den Vordergrund: die mystischen Strömungen, die sich innerhalb dieser Institution immer wieder bemerkbar machten, — einmal eher verborgen, einmal klar zu Tage tretend. Meister Eckhart, Johannes Tauler, Franziskus von Assisi, Hadewijch, Jan van Ruusbroec, Marguerite Porete, Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz, die geheimnisvollen Gottesfreunde im Elsass, Angelus Silesius — und nicht zu vergessen unser Nationalheiliger Niklaus von Flüe -, alles Namen, die wie Sterne am “spirituellen Himmel” strahlen.
Sie alle erkannten die tiefe Wahrheit des Ausspruchs von Jeshua ben Joseph:
Das Reich Gottes ist inwendig in euch.
Erwähnt werden muss die Blütezeit der gotischen Kathedralen mit der “Schule von Chartres” und ihren intellektuellen und spirituellen Höhenflügen.
Erwähnt werden müssen selbstverständlich auch die vielen Mönchs- und Nonnenorden, die über lange Zeit sich bewusst der Nachfolge Jesu verschrieben und Entscheidendes geleistet haben, um Europa kulturell auf eine neue Stufe zu heben. Aber immer wieder machten sich in diesen Orden auch Degenerationserscheinungen breit, oder sie wurden von den Päpsten gezielt dafür eingesetzt, “Ketzer” und “Häretiker” zu verfolgen und die Macht der Katholischen Kirche auszuweiten und zu festigen.
Es fällt auf, dass es immer wieder herausragende und mutige Einzelpersönlichkeiten waren, die der Kirche neues Leben einzuhauchen versuchten. Doch ihr Platz in dieser Institution war ganz und gar nicht gesichert: Meister Eckhart entkam einem Ketzerprozess nur, weil er vorher starb, Marguerite Porete verbrannte — wie später der Dominikaner Giordano Bruno — mit dem Segen der Kirche auf dem Scheiterhaufen.
Zwei eindrückliche Beispiele dafür, wie die dunklen und hellen Seiten in der Kirche etwa im 16. und 17. Jahrhundert aufeinanderprallten, zeigen sich im Kampf des Dominikaners Bartolomé de las Casas und des Jesuiten Friedrich Spee:
De las Casas stellte sich, nachdem er sich zuerst an den spanischen im Namen des Kreuzes durchgeführten Eroberungen beteiligt hatte, später mutig gegen die schreckliche Behandlung der Indigenen durch die Kolonisatoren. Bekannt geblieben ist er er dank seiner Anklageschrift und seiner Beteiligung am Disput von Valladolid.
Friedrich von Spee seinerseits kämpfte mit seiner “Cautio criminalis” mutig gegen den Hexenwahn, den der Dominikaner Heinrich Kramer mit seinem berüchtigten “Hexenhammer” noch weiter entfachte. (Neben der Katholischen Kirche machten bei den Hexenprozessen allerdings auch die Protestanten von Luther bis Calvin munter mit.)
Und nicht zuletzt sind zu erwähnen der Schweizer Katholik Ignaz Troxler, dem wir unsere Bundesverfassung zu verdanken haben, Hans Küng, der mit seiner Weltethos-Idee die Türe für einen konstruktiven interreligiösen Dialog weit aufgestossen hat und dafür die kirchliche Lehrberechtigung verlor, und der Jesuit Thomas Schipflinger mit seinem Buch “Sophia-Maria”, in dem er die weiblichen Aspekte der Gottheit ebenfalls interreligiös ausleuchtete.
Fazit: Früher und heute engagierten und engagieren sich viele Katholikinnen und Katholiken für eine neue und gerechtere Welt. Nur gehören sie — um mit Roger Köppel zu sprechen — ohne Ausnahme der “woken” Kirche an. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass jene Katholiken, die der Weltwoche-Chefredaktor als letzte Bastion gegen den grassierenden “woken” Zeitgeist sieht, den jetzigen Papst lieber heute als morgen entsorgen möchten.
Wer hat recht: Roger Köppel, der die Rückkehr zur traditionellen Kirche predigt, oder ein katholischer Theologe wie Karl Rahner, der sagte: Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein”?
Damit ist der Schreiberling soweit, dass er die eloquente Verteidigung der dogmatisch-kirchlichen Tradition durch den Weltwoche-Chefredaktor nächste Woche einer genaueren Analyse unterwerfen kann.
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