Im April 2017 — also wenige Monate nach dem Präsidentschaftsbeginn von Donald Trump — organisierte eine Professorin an der Yale Universität, eine der renommiertesten Universitäten weltweit, eine Konferenz mit dem Titel : “Umfasst die berufliche Verantwortung eine Warnpflicht?” Ihr Name: Bandy X. Lee, M.D., M.Div., Assistant Clinical Professor für Recht und Psychiatrie an der Yale School of Medicine. Durch die Wahl Donald Trumps zutiefst beunruhigt, hatte sie Fachkolleginnen und Kollegen gebeten, diese Besorgnis in einem öffentlichen Brief zu teilen. Die meisten Angeschriebenen weigerten sich zu unterschreiben.
Bandy X. Lee: “Einige gaben zu, dass sie Angst vor irgendeiner undefinierten Form staatlicher Vergeltung hatten, so schnell hatte sich ein Klima der Angst breit gemacht. Sie fragten uns, ob wir nicht befürchteten, “zur Zielscheibe” zu werden, und rieten uns einen Rechtsbeistand zu suchen. Dies war eine Lektion für uns, wie ein Klima der Angst Menschen dazu bringen kann, sich selbst zu zensieren.
Andere die sich weigerten, unsere Briefe der Besorgnis zu unterschreiben, beriefen sich auf prinzipielle Fragen. Die Psychiatrie, so wurden wir gewarnt, solle sich aus der Politik heraushalten; andernfalls könnte der Berufsstand ethisch kompromittiert werden. Das am häufigsten angeführte Beispiel war das der Psychiater in der Sowjetunion, die mit der Geheimpolizei zusammenarbeiteten, um Dissidenten als geisteskrank zu diagnostizieren, und sie in Gefängnisse einzusperren, die als Krankenhäuser getarnt waren.”
Bandy X. Lee nahm diese Einwände ernst. Auch in den USA hatte die Regierung von George W. Bush versucht, Psychologen und Psychiater zu finden, welche die im Gefangenenlanger Guantanamo angewendeten Folterpraktiken öffentlich gutheissen würden, — und sie wurde fündig:
“Wir wurden kürzlich Zeuge der Schande einer ganzen Berufsorganisation, der American Psychological Association, deren Führung in Zusammenarbeit mit Beamten des US-Militärs, der CIA und des Weißen Hauses von Bush ihre ethischen Richtlinien umgeschrieben hat, um einem geheimen Regierungsprogramm für Zwangsverhöre rechtliche Deckung zu geben und um Militärpsychologen zu entschuldigen, die Foltermethoden entwickelt und umgesetzt haben.”
Eine weitere Barriere für Psychiater und Psychologen, sich öffentlich über die Präsidentschaft Trumps zu äussern, war die sogenannte “Goldwater-Regel”, die besagt, dass es für einen Psychiater unethisch sei, eine professionelle Meinung über eine öffentliche Person abzugeben, “wenn er oder sie nicht eine Untersuchung durchgeführt hat und eine ordnungsgemässe Genehmigung für eine solche Aussage erhalten hat.”
Trotz all dieser Bedenken und Einwände kamen aber die professionellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Laufe der erwähnten Konferenz zur Überzeugung, dass es ihre ethische Pflicht sei, sich an die Öffentlichkeit zu wenden:
“Ein Psychiater, der die grundlegenden Verfahren der Diagnose und Behandlung missachtet und ohne Diskretion handelt, verdient eine Rüge. Das öffentliche Vertrauen wird jedoch auch verletzt, wenn der Berufsstand seiner Pflicht nicht nachkommt, die Öffentlichkeit zu warnen, wenn eine Person, die die Macht über Leben und Tod über uns alle innehat, Anzeichen von eindeutigen, gefährlichen psychischen Beeinträchtigungen aufweist.
Wir sollten innehalten, wenn Fachleute gebeten werden, zu schweigen, wenn sie in jeder anderen Situation genug Beweise gesehen haben, um Alarm zu schlagen. Wenn es um Gefährlichkeit geht, sollte der Präsident einer Demokratie, als erster Bürger, nicht den gleichen Standards der Praxis unterliegen wie der Rest der Bürgerschaft?
… Aufgrund des Gewichts dieser Verantwortung sollte der Arzt zu Recht davon absehen, sich zu einer öffentlichen Person zu äußern, außer in den seltensten Fällen. Nur in einem Notfall sollte ein Arzt das Vertrauen in die Vertraulichkeit brechen und ohne Zustimmung intervenieren, und nur in einem Notfall sollte ein Arzt die Goldwater-Regel brechen. Wir glauben, dass ein solcher Notfall jetzt vorliegt.”
Und so erschien im Anschluss an die Konferenz das Buch: “The Dangerous Case of Donald Trump. 27 Psychiatrists and Mental Health Experts Assess a President”.
Das Buch löste auch Gegenpositionen aus. Allen Frances, einer der renommiertesten Psychiater in den USA, veröffentlichte “Twilight of American Sanity”.
Seine Hauptthese: “Es ist tröstlich, Präsident Donald Trump als einen verrückten Mann zu sehen, einen Einzelfall, eine Ausnahme — und nicht als Spiegelbild von uns oder unserer Demokratie. Aber auf eine Art und Weise, die ich nie erwartet hätte, war sein Aufstieg absolut vorhersehbar und ein Spiegel unserer Seele. … Was sagt es über uns aus, dass wir jemanden gewählt haben, der so offenkundig ungeeignet und unvorbereitet ist, die Zukunft der Menschheit zu bestimmen?
Trump ist ein Symptom einer Welt in Not, nicht ihre einzige Ursache. Ihm die Schuld für all unsere Probleme zu geben, geht an der tieferen, zugrunde liegenden gesellschaftlichen Krankheit vorbei, die seinen unwahrscheinlichen Aufstieg ermöglicht hat. Trump als verrückt zu bezeichnen, erlaubt uns, die Konfrontation mit der Verrücktheit in unserer Gesellschaft zu vermeiden — wenn wir gesund werden wollen, müssen wir zuerst Einsicht über uns selbst gewinnen. Einfach gesagt: Trump ist nicht verrückt, aber unsere Gesellschaft ist es.”
Wir werden uns in den kommenden Folgen etwas vertieft mit dem Inhalt beider Bücher auseinandersetzen. Dann können wir uns wieder der Weltwoche zuwenden.
Hans-Jörg Beutter
Jan. 30, 2021
meiner bescheidenen meinung nach besteht zwischen den beiden ansätzen kein widerspruch – vielmehr eine ungute komplementarität.
einerseits eine ausgeprägte idiosynkrasie – für t**** am besten mit »eigendümmlichkeit« zu übersetzen – der führungspersönlichkeit (siehe petrilowitsch et al.) … die auf ein pathogenes kollektives verhalten (nach devereux, erdheim, parin, nadig et al.) einwirkt und vice versa.
speziell bedeutungsvoll: die nähe/verbindung zwischen (unbewältigbarer/diffuser) angst und vermeintlich erlösendem wahn (verschwörungs-empfänglichkeit/-bereitschaft)
siehe hiezu auch die beiträge in der republik (serie)
max feurer
Jan. 30, 2021
Schade, das war eigentlich die Folgerung, die ich in der nächsten Episode ziehen wollte ;-). Jetzt werde ich mir was Neues einfallen lassen müssen 🙂
Hans-Joerg Beutter
Jan. 30, 2021
schreck – tut mir ehrlich leid!
(aber wirklich ausgeführt hab ich ja nicht … nur grob umrissen)
max feurer
Jan. 30, 2021
Na ja, das zeigt immerhin, dass das birsfaelder.li auf eine intelligente Leserschaft zählen kann 🙂