Christoph Mörgeli von der Weltwoche beklagt sich bitterlich über das Engagement des Bundesrates, die EU-Sanktionen gegen Wladimir Putin zu übernehmen und hält angesichts dessen betrübt fest: Dies ist ein selbstverschuldeter Tiefpunkt, denn Ähnliches gab es in der Geschichte noch kaum.
Worauf er einen Blick in besagte Geschichte tut:
Vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis 1917 wanderten Zehntausende Schweizer ins Zarenreich aus – meist gut qualifizierte Spezialisten. Es entstanden zahlreiche Schweizer Siedlungen. Die Auswanderer schilderten die Russen als gastfreundlich und warmherzig, bemängelten aber Fleiss und Sauberkeit. Der Waadtländer Frédéric-César de La Harpe wirkte als Erzieher von Zar Alexander I. und vermochte ihn für schweizerische Belange zu sensibilisieren. Die Schweiz verdankt es vor allem russischen Anstrengungen, dass ihr 1815 am Wiener Kongress die immerwährende Neutralität gewährt wurde.
Das ist richtig. Das birsfaelder.li hat diese Fakten vor nicht allzu langer Zeit intensiv ausgeleuchtet. Doch dann kam es zu Misstönen:
Nach Gründung des Bundesstaates von 1848 trübte sich das Verhältnis, denn Russland beurteilte die freiheitlich-demokratische Schweiz als Brutstätte von Anarchisten. Vor dem Ersten Weltkrieg stammte ein Viertel der Studierenden in der Schweiz aus Russland. Nach der Oktoberrevolution wies der Bundesrat die russische Gesandtschaft aus, 1934 stimmte die Schweiz gegen die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund, 1940 wurden alle kommunistischen Parteien und Organe verboten.
Auch hier sieht Mörgeli durchaus klar, — und manövriert sich damit, ohne es zu bemerken, in einen typischen “Weltwoche”-Widerspruch:
● Ab der Oktoberrevolution 1917 nahm die Eidgenossenschaft tatsächlich dezidiert Stellung gegen die Sowjetunion. Angesichts der sich rasch entwickelnden stalinistischen Terrorherrschaft mit Abermillionen von Toten eine einleuchtende und sinnvolle Haltung, wie Mörgeli ohne Zögern bestätigen würde.
● Inzwischen ist in Russland ein Autokrat an der Macht, der auf subtile Weise den Stalinismus zu rehabilitieren versucht und seit Jahren daran ist, systematisch rechtsextreme Kräfte auf der ganzen Welt zu unterstützen und so Demokratien bewusst zu unterhöhlen. Jetzt hat er im Namen eines faschistoiden christlichen Nationalismus, wie ihn auch Trump in den USA zu etablieren versuchte, und getrieben von Ressentiments und imperialem Machtdenken die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen.
Und da soll die Schweiz, die auf ihre demokratischen Errungenschaften zu Recht stolz sein darf, sich ängstlich unter dem Feigenblatt “Neutralität” und der “Guten Dienste”, auf die ein Putin pfeift, wegducken?
Wir stehen heute definitiv im Kampf zwischen einer demokratischen und menschenwürdigen Weltordnung und einer autokratischen Phalanx — zu der u.a. Figuren wie Trump, Bolsonaro, Le Pen, Zemmour und Putin gehören — die unter der Fahne einer völlig pervertierten Version des Christentums bereit ist, über Leichen zu gehen, um ihrer Vision einer neuen Weltordnung zum Durchbruch zu verhelfen.
Dass die Weltwoche (und damit die SVP?) sehr viel Verständnis für diese Vision hat, machte sie in ihrer letzten Ausgabe vor einer Woche deutlich. Deshalb hinterlässt ihr Lamentieren über den Verlust der Schweizer Neutralität einen schalen Nachgeschmack …
franz büchler
März 9, 2022
Irgendwann während oder nach dem 2. Weltkrieg sagte jemand, ich zitiere sinngemäss, ich weiss nicht mehr wer, vielleicht hiess er Ehret, aber ich finde nichts im Internet, leider:
»Die Schweizer sitzen in der Loge der Neutralität und spucken den ringenden Völkern auf die Köpfe.«
JBU
März 13, 2022
Auch präzise meine Meinung, lieber Max !
Neutral im militärischen Sinne, aber ansonsten freiheitlich denkend ist das Wesen der Neutralität. Sie zuzulassen und nicht sich gegen solche tatsächliche Perversitäten zur Wehr zu setzen, finde ich „krass daneben“, feige und einer immerhin ein bisschen humanistischen Gesellschaft unwürdig, auch wenn das die Sekte V(!)olksverführender Patridioten nicht gefällt …
max feurer
März 13, 2022
Um sich mehr Klarheit darüber zu verschaffen, warum die Schweiz klar Stellung nehmen muss, empfehle ich das Buch von Timothy Snider “The Road to Unfreedom”. Inzwischen auch auf deutsch (“Der Weg in die Unfreiheit”) erhältlich. Snyder ist ein versierter Kenner der ideologischen und geopolitischen Hintergründe, die zum Ukraine-Debakel geführt haben.