Die letzte Folge endete mit der Frage, ob es in der Schweiz oder in Europa Politiker gibt, die im Sinne von Allen Frances Klartext reden. Machen wir es kurz: Es gibt sie nicht.
Doch das ist nicht das Ende der Geschichte.
In Deutschland erscheint seit Jahrzehnten eine monatliche Zeitung mit dem schönen Titel: “Graswurzelrevolution”. Ihr Auftrag: Die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution bemüht sich seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreiten und weiterzuentwickeln. Sie gehört zu den selten gewordenen Presseerzeugnissen, welche die alten anarchistischen Ideale, wie sie vor noch nicht allzu langer Zeit der Basler Anarchist Heiner Koechlin vorlebte, vor der Vergessenheit und in die neue Zeit hinüber zu retten versuchen.
Doch seit einiger Zeit steht sie mir ihrem Wunsch nach einer grundlegenden Erneuerung der Gesellschaft längst nicht mehr allein. Die “Graswurzelrevolution” hat ihre anarchistische Nische verlassen und zeigt sich in mannigfaltigsten Bewegungen, in der Schweiz und in ganz Europa. Ihr gemeinsamer Nenner: Sie kommen alle “von unten” — auch wenn durchaus AkademikerInnen dabei sind. Sie sprechen Klartext und machen einen grossen Bogen um “alternative Wahrheiten” und “Fake News” irgendwelcher Art.
Es lohnt sich deshalb, einige davon vorzustellen.
Beginnen wir mit der Schweiz. Schon mal von der “IP Schweiz” gehört? — Ich bis vor kurzem auch nicht :-). Aber es lohnt sich sehr, sie kennenzulernen. “IP” steht für “Integrale Politik”. Damit ist klar, dass sie auf jener Weltsicht aufbaut, die wir gestern anhand des Beispiels von Ken Wilber kennengelernt haben. Ihre Kernaussagen:
- Die Vision der Integralen Politik ist eine Gesellschaft, in der das Wohl aller Menschen, aller Tiere, aller Pflanzen und der ganzen Erde verwirklicht ist.
- Diese integrale Gesellschaft basiert auf einem gewandelten Bewusstsein der Menschen, die wissen, dass alles mit allem verbunden ist und dass genug für alle da ist.
- Die Menschen handeln aus einer konstruktiven, lebensbejahenden Verantwortung — aus der Intelligenz des Herzens.
Neugierig geworden? Dann lohnt sich ein Blick auf die Grundlagen der Integralen Politik!
In dieser Folge wurde Gil Ducommun erwähnt, Autor der beiden Bücher “Nach dem Kapitalismus. Wirtschaftsordnung einer integralen Gesellschaft” und “Die Aushöhlung der Demokratie. Kapitalkonzentration und Macht”. Und er ist der Initiator einer weiteren integralen Bewegung, der “Bewegung Neue Kultur”, die den Anspruch hat, nicht nur in der Schweiz politisch “etwas in Bewegung” zu bringen, sondern sogar europaweit. Ihre Kernaussagen:
- Die BNK soll eine entscheidende parteilose Kraft von unten werden und den heutigen Kurs der Menschheitsentwicklung ändern.
- Einerseits lernen wir in Frieden mit der Natur zu leben; andererseits stellen wir mehr Frieden unter den Menschen her, durch mehr Gerechtigkeit in der Verteilung des Wohlstandes.
- Es braucht die Kreativität und Gestaltungskraft von Abertausenden von Menschen, um die Neue Kultur in allen Bereichen zu denken und detaillierte Lösungen zu finden.
- Es geht uns um das Wohl unserer Kinder und Enkel sowie um das Gemeinwohl der Menschheit in einer gesunden Natur.
Auch hier lohnt es sich, das Manifest der BNK kennenzulernen.
Utopisch, das alles !? — Vielleicht … Aber es lohnt, sich daran zu erinnern, dass 1988 kein Mensch glaubte, dass sich schon ein Jahr später die politische Weltkarte radikal verändern würde! Es ist kein Geheimnis, dass alle etablierten Parteien von links bis rechts an gallopierender Auszehrung leiden. Vielleicht bereitet sich hier tatsächlich Neues vor! IP-Gründungsmitglied Gary Zemp ist zuversichtlich:
Die gesellschaftliche Entwicklung beschleunigt sich
Der Wandel ist im vollen Gange. Und dazu in atemberaubender Geschwindigkeit. Die mythische Gesellschaftsordnung, legitimiert durch Adel und Priester, die sich von einem allmächtigen und richtenden Gott ausgewählt fühlten, hielt sich über mehrere Jahrtausende als unhinterfragtes Wertesystem an der Macht, bis es vor circa 400 Jahren dank der Aufklärung an Einfluss verlor und die Zeit der Moderne begann, die bis heute für die Mehrheit der Gesellschaft tonangebend ist.
Die ersten Anzeichen einer ernsthaften Ablösung des rational fixierten Wertesystems der Moderne sind jetzt gerade mal 50 Jahre alt. Sie begannen mit den Veröffentlichungen des Club of Rome anno 1972. Das grüne Zeitalter erschien damit am Horizont. Es brauchte Jahrzehnte bis deren wissenschaftlich begründeten Zukunftsszenarien ernst genommen wurden. Noch ist die ökologische Wende nicht auf ihrem Höhepunkt, – die Postmoderne wird erst auf der links-sozialen Seite gelebt, die Parteien der wertekonservativen Rechten beginnen nur zögerlich die Ökologie in ihre Parteiprogramme aufzunehmen -, da erscheinen bereits die ersten Bewegungen und Gruppierungen, die sich für einen Wandel der Gesellschaft in Richtung eines integralen menschlichen Zusammenlebens stark machen.
Auch wenn wir integrale Aktivisten oft den Eindruck haben, es geschehe alles so langsam und es gehe nicht vorwärts, aus der geschichtlichen Perspektive sitzen wir in einem Schnellzug der Veränderung von dem ich den Eindruck habe, dass, wenn er noch schneller fahren würde, er Gefahr liefe aus den Schienen katapultiert zu werden. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus und bin dankbar für diese Entwicklung, auch wenn ich es bedauere, dass zur neuesten Beschleunigung offensichtlich eine Pandemie notwendig war, die für viele Menschen Leid und Tod bedeutete.
In der nächsten Folge am 16. April werfen wir einen Blick auf den “Grossen Kanton” ;-), denn auch da tut sich einiges.
Hans-Jörg Beutter
Apr. 10, 2021
das schier endlose kreiseln hat sich offensichtlich gelohnt: eine punktlandung mit handfester ausbeute …
(mit dem heiligen buch, wo schinz no viel heiliger ischt als alle andren heiligen bücher, hab ich’s halt nidso … und «der edle wilde« ist in meinen augen auch etwas gar ins (esoterische) alter gekommen …)
was haben trump bzw. köppel/wewo damit zu tun: anachronistisch/verbohrte zeitzeugen …
vermutlich ist die welt ja doch keine scheibe (aber genauso vermutlich hat sie womöglich eine)
max feurer
Apr. 10, 2021
Lieber eine Punktlandung nach endlosem Kreiseln als gar keine ;-)!
Ich kenne durchaus den oberflächlichen “Edle-Wilde-Mythos”, aber darauf beziehe ich mich mit den vorgestellten Gebeten nicht. Die “Wilden”, die oft um einiges zivilisierter waren als wir Europäer und sich sogar manchmal erlaubten, das — welche Frechheit! — auch noch zu sagen (z.B. Jack Forbes,in “Wetiko”),haben uns ein spirituelles Erbe hinterlassen, für das wir zutiefst dankbar sein müssten.
Hans-Jörg Beutter
Apr. 10, 2021
brecht revisited:
zuerst kommt das gefressen werden, dann das fressen und schliesslich biz moral …
ich bin ja eigentlich ethnologe (u.a.) , hab mich der sog. »action anthropology« verschrieben und eine weile in indonesien gelebt/gearbeitet (ein gewisser bruno manser war einem da nicht gänzlich unbekannt)
warum dieser vorspann? die thematik ist mir absolut vertraut (auch schmerzlich vertraut, bei diesen gloriosen freihandelsabkommen, wo sich bären und tiger umarmen, harrharr – aber vielleicht brauchen die für ihre körperkosmetik ja auch palmöl …)
die hoffnung stirbt zuletzt.
ich würde Ihnen kein oberflächliches »edler wilder«-bild unterstellen wollen – nur ist diese spirituelle quelle mächtig am schrumpfen/kollabieren.
leider.
max feurer
Apr. 10, 2021
In Sachen Kollabieren bin ich mir nicht so sicher, wenn man sich z.B. hier etwas umschaut:
https://indiancountrytoday.com/