Die entscheidende politische Aufgabe der Zukunft wird es sein, die Menschen innerhalb von Nationen zusammenzubringen, damit sie wie einer handeln können, was die Lösung nationaler Probleme betrifft, und die Nationen der Welt zusammenzubringen, damit sie wie einer handeln, um die Probleme der Welt zu lösen.
So formuliert Allen Frances das Ziel jeglicher konstruktiver Politik, und ich denke, wir alle schliessen uns diesem Ziel vorbehaltlos an. Aber wenn das die entscheidende politische Aufgabe der Zukunft ist, dann ist die entscheidende politische Frage, wie wir dieses Ziel erreichen. Genau vor dieser Frage steht zurzeit in den USA Joe Biden, aber deren Beantwortung wird angesichts der aktuellen Entwicklung auch in Europa immer wichtiger.
Hat der Psychoanalytiker Frances hier vielleicht auch ein paar heisse Geheimtipps auf Lager?
Hat er tatsächlich. Auch wenn sie sich auf die heillose gesellschaftliche Zerrüttung in den Vereinigten Staaten beziehen, macht es durchaus Sinn, die eine oder andere Parallele zu unseren eigenen politischen Grabenkämpfen zu ziehen.
Eine ganze Reihe politischer Beobachter führten die Niederlage Hillary Clintons gegen Donald Trump unter anderem darauf zurück, dass sie einen Teil seiner Anhänger als “deplorables” (erbärmlich, kläglich, bedauernswert) bezeichnete und damit ihre Geringschätzung für all die Millionen ausdrückte, die im Mittleren Westen und im “Rust Belt” ihren Gegner unterstützten.
Frances stellt fest, dass Psychotherapeuten und Politiker sehr viel mehr gemeinsam haben, als man gemeinhin annimmt:
Sie teilen sehr ähnliche Ziele und Techniken, obgleich sie sich bezüglich ihrer Einflussmöglichkeiten stark unterscheiden. Beide verändern Einstellungen und Verhaltensweisen, indem sie ausgesprochene und unausgesprochene Beweggründe verstehen und ansprechen. Psychotherapeuten arbeiten immer nur mit jeweils einem Patienten, wohingegen sich die Handlungen von Politikern auf Millionen von Menschen auswirken, dennoch sind die Befähigungen und Kompetenzen ähnlich.
Beispiel gefällig?
Nur höchst selten wird ein Psychotherapeut einen Patienten mit wahnhaften Störungen direkt mit tatsachenbezogenen Argumenten konfrontieren, die darauf abzielen zu beweisen, dass seine Überzeugungen falsch und selbstzerstörerisch sind. Wie lächerlich und beeinträchtigend auch immer die Wahnvorstellungen dem außenstehenden Beobachter erscheinen mögen, haben sie doch dem Patienten geholfen, mit einer schmerzhaften Realität zurechtzukommen, und sie werden ganz bestimmt nicht einfach aufgegeben, weil sie falsch und schädlich sind. Vorschnelle Versuche, die Augen für die Realität zu öffnen, enden darin, dass der Patient Wut, Angst und Verwirrung empfindet. …
Ein guter Psychotherapeut überprüft die zugrunde liegende Notlage, welche eine Wahnvorstellung erforderlich macht, während er gleichzeitig schrittweise mit dem Patienten daran arbeitet, realistischere Möglichkeiten der Linderung zu finden. Er zeigt Empathie für das Leiden des Patienten, ohne die wahnhafte Vermeidungsstrategie des Patienten bezüglich der zugrunde liegenden Ursachen zu bewerten.
Und hier die Übersetzung für die politische Bühne:
Politiker werden eine vergleichbare Strategie benötigen, um unsere Gesellschaft langsam und behutsam zurück in die Wirklichkeit zu holen. Gesellschaftliche Wahnideen oder Wahnvorstellungen (z.B. QAnon) dienen perverserweise einem nützlichen Zweck für diejenigen, die sie unterstützen und an sie glauben; sie werden nicht allein deshalb aufgegeben, weil sie falsch und gefährlich für unsere Welt sind. Politiker verlieren Wahlen, wenn sie Wähler auffordern, den Realitäten mutig ins Auge zu blicken, …
Demgegenüber bestand Trumps Geheimwaffe für den Sieg in seiner einzigartigen Fähigkeit, gesellschaftliche Wahnvorstellungen zu seinem politischen wie persönlichen Vorteil zu fördern. Skrupellos nutzte er echte Ängste und Unsicherheiten aus, bestätigte lang gewachsenen Groll und bot sich selbst als Wiederkunft des Herrn an – offenkundig benutzte er falsche Versprechungen, mit denen er ansonsten vernünftige Menschen überredete, ihm zu glauben, auch wenn er die offenkundigsten und unverschämtesten Lügen verbreitete. Die Trumps dieser Welt sind völlig immun dagegen, jemals eine enge Beziehung zur Wahrheit zu haben.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Analytikers zu Beginn einer Therapie ist es also, sich in den Patienten hineinzuversetzen:
Es ist kein Riesenschritt erforderlich, um sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn man seine Lebensgrundlage dauerhaft verliert, wenn man von Politikern vernachlässigt, missverstanden und falsch vertreten wird, wenn man unter einer Regierung lebt, die alles zu umschließen scheint, nur nicht die eigenen Bedürfnisse und Ängste, wenn man von den Medien und den intellektuellen Eliten verachtet wird, wenn man still in der Schlange steht, während man von allen anderen, von Frauen, Minderheiten und Einwanderern überrundet wird, und an Traditionen und Sitten festhält, die von vielen anderen nicht mehr respektiert werden. …
Religiöse Strenggläubigkeit ist eine große Hilfe in einer sich rasend schnell verändernden und entfremdenden Welt. Wissenschaftliche Erkenntnisse infrage zu stellen, erlaubt Trost durch Illusionen und Wahnideen. Zu alledem kommen dann noch die Forschungsergebnisse der kognitiven Neurowissenschaften, dass Menschen mit konservativen politischen Neigungen psychisch und biologisch dazu neigen, besonders heftig auf angstbesetzte Situationen zu reagieren.
Einem Politiker, der keine Eigeninteressen wie Trump verfolgt, gibt Frances deshalb konkrete Ratschläge. Hier eine kleine Auswahl:
- Sei authentisch und ermutige Authentizität.
- Höre aufmerksam zu und lerne von Bevölkerungsgruppen so viel, wie sie von dir lernen.
- Ohne Empathie und Vertrauen sind deine Erfolgschancen gering.
- Erörtere realistische Ziele und Erwartungen. Flösse Hoffnung ein.
- Sei nicht voreingenommen und wertend.
- Metaphern, Bilder und Parabeln sind wichtiger als Fakten und Zahlen.
Ganz schön anspruchsvoll .… Und genügt das, um bei den Wählerinnen und Wählern durch die vielen Stereotypen und “buzzwords” in den Köpfen hindurch vorzustossen zu dem, was wirklich “Sache ist”? Auch angesichts der Tatsache, dass viele Politikerinnen und Politiker über die Existenz dieser Stereotypen und “buzzwords” ja gar nicht so unglücklich sind 😉
Auch dazu hat sich Frances ein paar Gedanken gemacht. Dazu mehr
am kommenden Freitag, den 2. April