Dass Roger Köppel und die SVP mit Christoph Blocher seit jeher das Hohelied der allerstriktesten hochheiligen Neutralität singen, ist bekannt:
Die dauerhafte, bewaffnete und integrale Neutralität garantiert unsere Identität, Souveränität und Sicherheit. Auf diesem Grundsatz basierend kommt es für die SVP nicht in Frage, sich im Ausland – bewaffnet oder unbewaffnet – für Sicherheitsdienste zu verpflichten, die einzig den globalen Interessen der USA oder ihrer Partner (in Afghanistan, Kosovo oder anderswo) dienen. Unsere Neutralität muss unangetastet bleiben, sie darf nicht aufgeweicht werden. Darum will die SVP keine Annäherung an die NATO oder die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Wir wollen keinen Sitz im UNO-Sicherheitsrat, welcher über Krieg und Frieden entscheidet und dessen Glaubwürdigkeit sowie Wirksamkeit zweifelhaft ist. (Dominique Bättig, 6. Nov. 2007 auf der SVP-Website)
Roger Köppel stösst in seinem Beitrag im Buch von Micheline Calmy-Rey selbstverständlich ins gleiche Horn:
Wer die unabhängige neutrale Schweiz schwächen will, wer die Schweiz in die EU oder in die NATO führen will, versucht immer zuerst, die Schweizer Armee zu schwächen. Nur eine Schweiz, die sich selber verteidigen kann, ist unabhängig.
(Armeechef Thomas Stüssli vor zwei Tagen in 20 Minuten: Verteidigungsmöglichkeit für maximal 4 Wochen)
Neutralität heisst aber auch: Distanz halten zu Friedensordnungen, zu heiligen Allianzen und supranationalen Organisationen, zu europäischen Unionen, die in unfriedlichen Zeiten leicht zu Kriegsparteien werden können und die kleine, verwundbare Schweiz in Konflikte hineinziehen.
(Dass die EU überhaupt auf die Idee kam, in der Ukraine das Völkerrecht und das Modell der Demokratie verteidigen zu wollen — schwerer Fehler! Und dass sich die neutrale Schweiz den EU-Sanktionen gegen den russischen Aggressor anschloss, noch schwererer Fehler!!)
Neutralität ist aber nicht nur eine kluge Doktrin des Friedens. Sie ist auch eine geistige Haltung einfühlsamer Weltaufgeschlossenheit. Der neutrale Staat teilt die Welt nicht in Gut und Böse ein. Er meidet den aussenpolitischen Moralismus; er erhebt nicht den Zeigefinger gegen andere, sondern hält sich zurück.
(Roger Köppel demonstriert diese geistige weltaufgeschlossene Haltung seit Langem mit einfühlsamen Portraits zur AfD, Bernd Höcke, Alice Weidel, Bolsonaro, Salvini, Orban, Trump und Putin)
Stillsitzen statt Aktivismus — Neutralität ist auch eine Form aussenpolitischer Bescheidenheit. Sie erfordert von den Politikern Selbstdisziplin, manchmal heroische Gelassenheit. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
(Üben wir uns deshalb in Selbstdisziplin und heroischer Gelassenheit, um z.B. gegenüber China ja nicht das Schimpfwort “Uiguren” zu benutzen!)
Der neutrale Staat marschiert nicht mit in den Schlachtordnungen der anderen. Er anerkennt vielmehr, dass alle Staaten aus ihrer Sicht legitime Interessen haben. Neutralität ist für den Kleinstaat angewandter Realismus in der Aussenpolitik.
(Russland hat bekanntlich ein legitimes Interesse, mit dem Angriff auf die Ukraine seine Grossmachtsfantasien verwirklichen zu dürfen. Darum, neutrale Schweiz: Klappe halten!)
Die Schweiz ist eine Friedensoase relativer Ruhe. Sie teilt keine Zensuren aus. .… Dank der Schweizer Neutralität haben Schweizer Unternehmen in der Weltwirtschaft einen grossen Vorteil. Sie kommen aus einem Land, das alle mögen, weil es niemandem gefährlich wird. Wer von allen gemocht wird, kann mit allen gute Geschäfte machen.
(Das wäre tatsächlich der Gipfel, wenn ein paar moralische Spinner unsere guten Geschäfte verderben würden!)
In einem kürzlichen Weltwoche-Editorial beklagt Köppel denn auch bitterlich den Verrat der “politischen Elite” am hehren Neutralitätsideal, indem er zwei ausländische Unternehmer — der eine aus Russland, der andere aus Sri Lanka — zu Wort kommen lässt. Beide verurteilen den russischen Angriff, selbstverständlich, keine Frage. ABER: der in der Schweiz lebende Russe fragt sich, ob er überhaupt noch in helvetischen Gefilden bleiben soll, denn
Auf einmal würden Leute allein aufgrund ihrer Nationalität enteignet, ausgestossen. Das sei nicht mehr die Schweiz, wie er, wie die Welt sie kenne.
Der Geschäftsmann aus Sri Lanka würde sein Geld nicht mehr auf eine Schweizer Bank bringen. … Die Schweiz habe keine Kraft, ihre Rechtsordnung (wohl das sakrosankte Bankgeheimnis) gegen das Ausland zu verteidigen. Man sehe es jetzt bei den Russen. Weil der russische Staat in Ungnade gefallen sei, nehme man den Russen das Geld weg, ohne rechtliches Gehör, pure Willkür. Es sei ein unglaublicher Skandal. … Ob denn künftig jedem Angehörigen eines Staates, der bei der EU oder bei den USA in Ungnade gefallen sei, in der Schweiz automatisch das Vermögen eingefroren, weggenommen werde?
Roger Köppel kann die beiden honorablen Herren sehr gut verstehen:
Natürlich bemüht man sich, als Schweizer im Ausland solche Abgesänge zu kontern, die verheerende Politik des Bundesrats, den Neutralitätsbruch, die Willkür der Sanktionen, die Preisgabe der Unabhängigkeit herunterzuspielen, aber innerlich muss ich dem Unternehmer aus Sri Lanka recht geben. Wir Schweizer sind uns gar nicht bewusst, was wir hier anrichten, was unsere Regierung an fürchterlichen Botschaften in die Welt ausstrahlt.
Die Schweiz als erdbebensicherer Zufluchtsort (für das Geld) – das war einmal.
Angesichts dieser desolaten Entwicklung bleibt dem birsfaelder.li-Schreiberling nur noch der Stossseufzer: Heil dir Helvetia 🙂 !
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher
Ab morgen Freitag, 1. Juli bis Sonntag, 31. Juli nimmt sich besagter Schreiberling im birsfaelder.li eine Sommer-Auszeit. Er gibt dafür am Do, Fr, und Sa — im Anschluss an die Erkenntnisse von Graeber/Wengrow — zwei indigenen Stimmen ohne Kommentar und ohne Filter die Möglichkeit, ihre Sicht auf die Zivilisation und Politik der weissen Europäer darzulegen:
- A Basic Call to Consciousness. The Hau de no sau nee Address to the Western World, ein 1977 von Irokesen in Genf publiziertes Manifest (in deutscher Übersetzung)
- Columbus & andere Kannibalen. Die indianische Sicht der Dinge. von Jack D. Forbes (in Auszügen)
Alles Nähere dazu morgen.
Die “Fotoküche” am So bleibt.
Max Ziegler
Juni 30, 2022
Einfach grossartig, traurig und wahr!
Elisabeth Hischier
Juni 30, 2022
Lieber Max
Vielen Dank für deine kurzen und erhellend-informativen Artikel zu komplexen Fragen.
Ich wünsche dir eine schöne Auszeit und erholsame Ferien
Elisabeth Hischier