SVP-Bundesrat Ueli Maurer machte 2014 in einer Rede deutlich, warum Peter Ochs für ihn alles andere als ein historisches Vorbild ist:
In der Schweiz streiten sich damals zwei Meinungsrichtungen, wie man sich gegenüber dem immer offensiveren revolutionären Frankreich verhalten soll: Die einen setzen auf Selbstbestimmung und Verteidigung. Sie wollen die Armee aufrüsten und modernisieren. Dagegen setzt die sogenannte Friedenspartei auf Diplomatie und Zugeständnisse. Sie will die Ausgaben für die Landesverteidigung lieber sparen.
Der historisch wohl berühmteste Vertreter der Friedenspartei ist der Basler Peter Ochs. Später ging er als Landesverräter in die Geschichte ein (seine Nachkommen wechselten sogar aus Scham den Familiennamen), aber damals hatte er in der Schweiz grosses politisches Gewicht.
Der Untergang des alten Bern ist beispielhaft für die Folgen einer falschen und fatalen Friedenspolitik.
Auf einen einfachen Nenner gebracht: Wenn sich damals im Ancien Régime die “Falken” durchgesetzt hätten, hätte nach Meinung von Bundesrat Maurer die Schweizer Geschichte Ende 18. Jahrhundert einen anderen, positiveren Lauf genommen.
Das ist ein schönes Beispiel, wie man — vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein — Geschichtsklitterung betreibt, denn es braucht schon ein gerütteltes Mass an Blindheit, um die wahren Ursachen des Zusammenbruchs der Alten Eidgenossenschaft nicht zu erkennen und zu nennen:
Es war die Eidgenossenschaft selber, die ihren Untergang heraufbeschwor, — aber nicht wegen mangelnder militärischer Aufrüstung oder wegen irgendwelchen defaitistischen Friedensbewegten, sondern wegen der Arroganz und Ignoranz der damals herrschenden Oberschicht, welche die Zeichen der Zeit schlichtweg nicht erkennen wollte.
Der Untergang des von Maurer beklagten alten Bern ist dafür ein Paradebeispiel:
Seit dem 17. Jahrhundert klafften Stadt und Land — von den Untertanengebieten gar nicht zu reden — immer weiter auseinander. Wer sich ein anschauliches Bild davon machen will, dem sei das eindrückliche, fast 800 Seiten umfassende Werk des Berner Lieder- und Spielemachers Urs Hostettler, “Der Rebell vom Eggiwil” empfohlen, in dem er mittels akribischer Quellenforschung nachzeichnet, wie die Landbevölkerung — nicht nur in Bern — Schritt um Schritt entrechtet und immer stärker belastet wurde, bis sich die sozialen Spannungen im Bauernkrieg 1653 entluden.
Innerhalb der Städte selbst konzentrierte sich die Macht in den Händen weniger regimentsfähiger Familien, die ihre öffentlichen Ämter als erblich betrachteten und zunehmend eine aristokratisch-absolutistische Haltung einnahmen. Mit der Zeit bildete sich somit eine städtische Magistraten-Oligarchie. Diese Machtkonzentration auf eine kleine urbane Elite führte in den Stadtkantonen zu einer sozialen Abschottung, welche sowohl die Landbevölkerung als auch die niederen städtischen Gesellschaftsschichten von jeglicher Einflussnahme ausschloss. Die Untertanen mussten sich Dekreten fügen, die ohne ihre Zustimmung erlassen wurden, ihre althergebrachten Freiheiten ignorierten und auch ihre soziale und kulturelle Freiheit einschränkten. (Wikipedia)
Bern war bis zuletzt nicht bereit, auch nur einen Fingerbreit von seinen Herrschaftsansprüchen abzurücken, — und verlangte sogar noch nach der Helvetik und der Mediation seine Untertanengebiete zurück. Reaktionärer geht es kaum!
Das Leben und Wirken von Peter Ochs muss in diesem historischen Kontext betrachtet und gewürdigt werden.
Was hat es also mit seinem immer wieder kolportierten Landesverrat auf sich?
Sein Biograf Peter F. Kopp, ehemaliger Konservator am Historischen Museum Basel, kann sich ironischer Bemerkungen nicht enthalten, wenn er schreibt:
Das Kainsmal eines Verräters ist bis heute an Peter Ochs hängengeblieben. Fragen wir also: wann hat er verraten? In seiner Zeit als Direktor, behauptet Strickler. Was gab es denn in diesem ausgeraubten und besetzten Land noch zu verraten?
Schon unter dem Ancien Régime habe er die Schweiz an Frankreich verraten? Solange die alte Eidgenossenschaft bestand (bis zum Sonderbund), gab es immer wieder einzelne Schweizer oder ganze Orte, die versuchten, mit Hilfe fremder Mächte ihre Sonderanliegen gegen andere Schweizer durchzusetzen. Das mag nach heutigem Empfinden verwerflich sein, doch niemand spricht dabei von Verrat. Jahrhundertelang haben sich zahlreiche Schweizer für ihre Parteinahme von fremden Mächten, namentlich Frankreich, regelmässig bezahlen lassen, niemand spricht von Verrat. War es also Verrat, dass Peter Ochs — im Gegensatz zu manchen seiner Gegner — keine Pensionen von Frankreich bezog? (…)
Was werden für Beweggründe angeführt? Ochs habe aus übermässigem Ehrgeiz gehandelt, kann man lesen. Weil er als einziges damaliges Schweizer Staatshaupt sein Spitzenamt riskierte für die Revolution, von der niemand wissen konnte, wie sie ausgehen würde?
Persönliche Bereicherung? Ochs hat — obschon in finanzieller Bedrängnis — nicht einmal Entlöhnung angenommen, sondern dem Staat noch eigene Mittel vorgeschossen (und nie zurückerhalten). Gerade dass im sein eigenes Kapital weniger am Herzen lag als die Ideale, verziehen ihm seine Standesgenossen nicht, mochten sie nun das ihre mit dem Handel mit Seidenbändern oder dem Blut ihrer Mitbürger verdanken, oder auch nur ererbt haben wie er das seine.
Ist Idealismus als Motiv in der Politik einfach undenkbar? Ist es plausibler, das, was ihn trieb, religiösen Wahn oder Erlösungsfimmel zu nennen? (Kopp, Peter Ochs)
Stefan Hess bringt die Wahrnehmungsproblematik in seinem Beitrag “Eine Damnatio memoriae und ihre Folgen” auf den Punkt:
Vielmehr verdichteten sich negative Stereotypen, die sich bereits zu Lebzeiten herausgebildet hatten, zu einem festgefügten Wahrnehmungsmuster: Peter Ochs erscheint als charakterloser, von Eitelkeit und Ehrgeiz getriebener Kosmopolit, dem ein innerer Bezug zu seinem Vaterland fehlte und der dadurch zum willenlosen Instrument der Franzosen und zum Vaterlandsverräter wurde. (Menschenrechte und Revolution)
Mit der 1992 erschienenen anschaulichen Biografie von Peter F. Kopp und dem Begleitband zur Ausstellung zu Peter Ochs im Historischen Museum Basel 2021 scheint eine definitive Rehabilitation auf gutem Wege. Die nächste Folge sei deshalb abschliessend einer objektiveren Sicht auf sein Leben gewidmet, — und dies wie immer
am kommenden Donnerstag, den 2. Juni.
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Franz Büchler
Mai 26, 2022
Da kommt mir der Begriff Thermidor in den Sinn, nicht nur als Monatsname, sondern auch dafür, dass jede Revolution nach sich eine Reaktion oder sogar Gegenrevolution auslöste, die eine Nation nie ganz zum Ausgangspunkt zurückwarf, dem Volk aber immer den Grossteil seiner Eroberungen wieder entriss …