Wie in allen eid­ge­nös­si­schen Stad­t­or­ten präg­te sich im Lau­fe der Zeit auch in Zürich der Stan­des­un­ter­schied  zwi­schen der herr­schen­den Stadt und den Unter­ta­nen auf dem Land immer stär­ker aus. Doch dank der begin­nen­den Indus­tria­li­sie­rung (Baum­woll- und Sei­den­fa­bri­ka­ti­on) hat­te sich in den Gemein­den an Zürich­see eine länd­li­che intel­lek­tu­ell neu­gie­ri­ge Ober­schicht her­aus­ge­bil­det, die ihre Inter­es­sen in Lese- und Musik­ge­sell­schaf­ten pflegte.

Die Lese­ge­sell­schaf­ten wur­den zum Ort, wo man Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten las, die Schrif­ten über die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on dis­ku­tier­te und die poli­ti­schen Zeit­ideen ins Ver­hält­nis zur eige­nen Lebens­si­tua­ti­on setz­te. (…) Lek­tü­re und Dis­kus­sio­nen mach­ten den Mit­glie­dern bewusst, was Hein­rich Pes­ta­loz­zi wie folgt for­mu­lier­te: Das Indi­vi­du­um des Lands ist in sei­nem Bro­der­werb, in sei­ner Selbst­sten­dig­keit und in sei­nem Ehr­ge­fühl, von dem Indi­vi­duo des Bür­gers, wenigs­tens in allen Fab­ri­q­ge­gen­den, all­ge­mein und drükkend gek­renkt. (alle Zita­te aus Hol­ger Böning, Der Traum von Frei­heit und Gleich­heit. Orell Füss­li Ver­lag 1998).

In einer Bitt­schrift an die Stadt, dem “Stäf­ner Memo­ri­al” wur­den die poli­ti­schen und öko­no­mi­schen For­de­run­gen der Land­be­völ­ke­rung zusam­men­ge­stellt und mit Hin­wei­sen auf die alten Rech­te der Land­schaft gegen­über der Stadt (“Wald­mann­sche Spruch­brie­fe” und “Kap­pe­ler Brie­fe”) untermauert.

Der Kern des Stäf­ner Memo­ri­als … besteht in den For­de­run­gen nach Gleich­stel­lung von Land­leu­ten und Stadt­bür­gern, nach Gewer­be- und Stu­dier­frei­heit, nach Ablö­sung der alten Feudal­las­ten und der Rück­ga­be von ent­zo­ge­nen Gemein­de­frei­hei­ten. Die Lie­be zur Frei­heit, so der ers­te Satz, sowie der Hass gegen alle Arten des Des­po­tis­mus ist der Mensch­heit eigen. Jener hul­dig­ten alle auf­ge­klär­ten Völ­ker vom Auf­gang bis zum Nie­der­gang; die­sem fröh­nen nur Höf­lin­ge, Edel­leu­te, Pries­ter und Skla­ven, so lan­ge sie sol­che zu ihren Absich­ten benut­zen kön­nen. Soll­te dem­nach die Lie­be zur Frei­heit in ihrem eigen­tüm­li­chen Vater­lan­de erstor­ben sein? Nein! Wir wür­den unwür­di­ge Enkel unse­rer Ahnen sein, wenn wir nicht jenes teu­re Gut, die sie uns mit soviel Auf­op­fe­rung erwor­ben haben, hei­lig hiel­ten und es unver­letzt unsern spä­ten Nach­kom­men auf­be­hiel­ten. … Von frei­en Vätern erzeugt, sol­len wir freie Söh­ne sein. Dafür redet die Geschich­te, dafür zeu­gen die Urkunden …

Die Reak­ti­on der hoch­wohl­ge­bo­re­nen Zür­cher Stadt­her­ren liess nicht lan­ge auf sich war­ten. Die Haupt­ver­ant­wort­li­chen für das Memo­ri­al wur­den in Haft genom­men oder zu mehr­jäh­ri­ger Ver­ban­nung aus der Eid­ge­nos­sen­schaft ver­ur­teilt, sech­zig wei­te­re Betei­lig­te erhiel­ten Geld- und Ehren­stra­fen, und das Memo­ri­al wur­de vom Gross­wei­bel ver­brannt. Von den Kir­chenkan­zeln wur­den die Memo­ria­lis­ten als gefähr­li­che Unru­he­stif­ter und das Memo­ri­al als straf­ba­rer Auf­ruhr­ver­such verurteilt.

Als beson­ders bri­sant für die Hoch­wohl­löb­li­che Stadt­ob­rig­keit erwies sich die Beru­fung der Auf­müp­fi­gen auf die alten Rechts­brie­fe. Der Gehei­me Rat liess ver­kün­den, dass sol­che in Zei­ten von Auf­ruhr errich­te­ten Urkun­den als ein Werk der unor­dent­li­chen Gewalt anzu­se­hen sei­en, deren Andenken zu erneu­ern jeder red­li­che Ange­hö­ri­ge sich seit­her stets gehü­tet hat und aus dank­ba­rem Gefühl des der­mal unter Got­tes Segen und einer so väter­li­chen Regie­rung genies­sen­den Glü­ckes immer hüten wird.

Das sahen die Memo­ria­lis­ten ver­ständ­li­cher­wei­se etwas anders, und als nach der Ent­de­ckung einer obrig­keit­lich beglau­big­ten Abschrift des Wald­mann­schen Spruch­briefs und des Kap­pe­ler Briefs die­se trotz stren­gem Ver­bot in Gemein­de­ver­samm­lun­gen öffent­lich ver­le­sen wur­den, war defi­ni­tiv Feu­er im Dach: Die Stadt schick­te Trup­pen, liess Stäfa beset­zen und nahm wei­te­re Ver­haf­tun­gen vor.
In den gericht­li­chen Unter­su­chun­gen war die Stadt Par­tei und Rich­ter in einer Per­son. Geständ­nis­se wur­den durch Aus­peit­schun­gen erzwun­gen, Scharf­ma­cher for­der­ten gar Todes­ur­tei­le. Hein­rich Pes­ta­loz­zi schrieb in die­ser Situa­ti­on höchs­ter Span­nung war­nend: Die Gefahr des Augen­bliks ist gross, aber die Gefahr der Zukomft ist unend­lich grös­ser. Ich bin über­zeugt, das Vat­ter­land ret­tet sich nur durch Scho­nung der Gefüh­le des Volks.

Doch das Got­tes­gna­den­be­wusst­sein der Zür­cher Obrig­keit war taub für die­se Mah­nung. Von allen Kan­zeln wur­de im gan­zen Kan­ton gegen die “neue­rungs­süch­ti­gen Köp­fe Unse­rer Land­schaft” gewet­tert, die anstatt “dank­bar und genüg­sam die zweck­mäs­si­gern Rech­te und kost­ba­ren Wohl­tha­ten” zu genies­sen, “wel­che die huld­rei­che Obrig­keit, aus herz­li­cher Wohl­mei­nung, Ihrem gan­zen Land von Zeit zu Zeit zuge­t­heilt hat”,  vom Virus der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on ange­steckt, die­se kost­ba­ren Wohl­tha­ten schnö­de ablehnten.

Das rief nach einem Exem­pel: Am 3. Sep­tem­ber 1795 muss­te ein Haupt­ver­ant­wort­li­cher, Johann Jakob Bod­mer, unbe­schol­te­ner Inha­ber eines Mousse­lin­ge­schäfts und Mit­glied der Herrn­hu­ter Brü­der­ge­mein­de, zusam­men mit fünf andern Ver­ur­teil­ten vor den Toren Zürichs eine — dank der Inter­ven­ti­on Lava­ters und Pes­ta­loz­zis nur sym­bo­li­sche — Hin­rich­tung über sich erge­hen las­sen, nebst einer jähr­li­chen Bus­se von 800 Gul­den. Wei­te­re 200 Land­leu­te wur­den mit Gefäng­nis, Ver­ban­nung, Geld‑, Pran­ger- und Ehren­stra­fen gebüsst. Der Gemein­de Stäfa wur­den alle Selbst­ver­wal­tungs­rech­te ent­zo­gen, und ihr wur­den über 60’000 Gul­den Kriegs­kos­ten auf­er­legt, was den wirt­schaft­li­chen Ruin bedeutete.

Carl Hil­ty, der gros­se Schwei­zer Staats­recht­ler des 19. Jhdts. , urteil­te 1878 mes­ser­scharf, wem die Revo­lu­ti­on von 1798, die zum Unter­gang der Alten Eid­ge­nos­sen­schaft führ­te, zu ver­dan­ken war:
Die­je­ni­gen rie­fen die Revo­lu­tio­nen und waren in ihrem gan­zen Geist und Sinn revo­lu­tio­när, die aus den ursprüng­lich frei­en und gleich­be­rech­tig­ten Bür­gern Knech­te einer angeb­lich von Gott ein­ge­setz­ten, der That und Wahr­heit nach aber über­all gänz­lich usur­pier­ten, erb­li­chen Regie­rung ein­zel­ner Fami­li­en machen woll­ten und schliess­lich, wie sich in die­sem her­vor­ra­gen­den Bei­spiel von Zürich zeigt, nicht ein­mal mehr die Erin­ne­rung an ihre eige­nen, viel­fach beschwo­re­nen und besie­gel­ten Per­ga­men­tur­kun­den ver­tru­gen, sobald die­sel­ben ihrer will­kür­li­chen Herr­schaft ent­ge­gen­stan­den. Sie waren die per­ma­nen­te, ein­ge­fleisch­te, völ­lig unbe­lehr­ba­re Revo­lu­ti­on gegen Alles recht­mäs­si­ge alte Eid­ge­nös­si­sche Staats­recht, ganz abge­se­hen von allen moder­nen, natür­li­chen Men­schen­rech­ten, die wir in der Eid­ge­nos­sen­schaft ohne die­se aris­to­kra­ti­schen Revo­lu­tio­nä­re nicht zur Begrün­dung eines men­schen­wür­di­gen Zustan­des gebraucht hätten.

Was für die Gnä­di­gen Her­ren von Zürich zutrifft, galt auch für jene in Bern, Frei­burg, Solo­thurn, Schaff­hau­sen … Aber auch die Land­kan­to­ne wie Gla­rus, Schwyz und Uri moch­ten nicht auf ihre Unter­ta­nen­ge­bie­te verzichten.

So ist es nicht ver­wun­der­lich, dass die letz­te Tag­sat­zung in Aar­au am 25. Janu­ar 1798, an der die alten Bün­de noch ein­mal fei­er­lich beschwo­ren wur­den, zu einer tra­gi­schen Far­ce geriet. Der ber­ni­sche Land­vogt berich­te­te vier Tage spä­ter sei­nen Herren:
… am Don­ners­tag, bei dem Bund­schwur, misch­ten sich die Wei­ber von Aar­au unter die Zuschau­er und sag­ten ihnen, die­se Cere­mo­nie sei unbe­deu­tend, sie kön­ne doch den Umsturz ihrer Regie­rung nicht hin­dern. Allent­hal­ben sind es die Wei­ber, selbst in den Bäcker­stu­ben, wo ihre Män­ner ruhi­ge Zuhö­rer sind, wel­che die Revo­lu­ti­on predigen. 

Ein Stand fehl­te beim Schwur: Basel. Drei Tage vor­her waren die Gesand­ten “wegen glück­li­cher Ver­ei­ni­gung zwi­schen Stadt- und Land­bür­gern” abbe­ru­fen worden.

Damit keh­ren wir zu unse­rer Geschich­te von Peter Ochs zurück, und dies wie immer

am kom­men­den Don­ners­tag, den 24. März.

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