Payer­ne, 2. Juli 1800, Auber­ge de l’O­li­vi­er. Gegen Abend ist eine Kut­sche mit einem Gefan­ge­nen aus Lau­sanne ein­ge­trof­fen. Ziel: Bern, wo er vor Gericht gestellt wer­den soll. Die Pfer­de müs­sen aus­ge­wech­selt wer­den, das dau­ert etwas län­ger als vor­ge­se­hen. Vor dem Gäs­te­zim­mer patrouil­liert eine Wache. Doch nachts gelingt es dem Gefan­ge­nen, hin­ter deren Rücken aus der Her­ber­ge zu flie­hen. Ohne Licht stol­pert er über die Fel­der Rich­tung Estavay­er. Er ver­liert einen Schuh, zer­reisst sich den Rock. Am andern Mor­gen fin­det er einen Fischer, der ihn auf die ande­re Sei­te des Neu­en­bur­ger­sees bringt. Dann wei­ter zu Fuss Rich­tung fran­zö­si­sche Gren­ze: geret­tet! Der Weg nach Paris ist offen …

Der Name des Flücht­lings: Fré­dé­ric-César de la Har­pe. Noch im Janu­ar gehör­te er als Mit­glied des Direk­to­ri­ums zu den mäch­tigs­ten Män­nern in der neu gegrün­de­ten Hel­ve­ti­schen Repu­blik. Als Erzie­her des rus­si­schen Zaren Alex­an­der I. beweg­te er sich seit lan­gem auf inter­na­tio­na­lem Par­kett, und vie­le Jah­re spä­ter soll­te er nach dem Ende der napo­leo­ni­schen Aera für die Neu­kon­sti­tu­ie­rung der Schwei­ze­ri­schen Eid­ge­nos­sen­schaft eine ähn­lich gewich­ti­ge Rol­le spie­len wie der Gen­fer Charles Pic­tet de Roche­mont.

Aber im Gegen­satz zu die­sem war der Waadt­län­der de la Har­pe schon zu Leb­zei­ten eine umstrit­te­ne poli­ti­sche Per­sön­lich­keit — und ist es heu­te noch. Sein Leben führt uns erneut mit­ten hin­ein in die Zeit der dra­ma­ti­schen Umwäl­zun­gen wäh­rend des Über­gangs vom 18. ins 19. Jahr­hun­derts, aus der Jahr­zehn­te spä­ter eine rege­ne­rier­te Schweiz her­vor­ging. Und es lässt wie bei Pic­tet die euro­päi­schen Ver­flech­tun­gen ins Bewusst­sein tre­ten, die zu deren Ent­ste­hung bei­getra­gen haben.

Wer­fen wir also einen Blick in die­ses tur­bu­len­te und fas­zi­nie­ren­de Leben!

Gebo­ren 1754 in Rol­le als Sohn eines ehe­ma­li­gen Offi­ziers in pie­mon­te­si­schen Diens­ten erhielt Fré­dé­ric-César eine soli­de Aus­bil­dung im bünd­ne­ri­schen Semi­nar Hal­den­stein, das im Geis­te der Auf­klä­rung geführt wur­de. Es folg­te ein Stu­di­um der Rech­te an der Uni­ver­si­tät Tübin­gen, das er schon mit 20 Jah­ren mit einem Dok­to­rat abschloss. Er arbei­te­te zuerst in Rol­le, dann in Lau­sanne als Advo­kat und über­nahm bald ein­mal eine poli­ti­sche Auf­ga­be im “Rat der Zweihundert”.

Aber er revol­tier­te inner­lich gegen die Tat­sa­che, dass die Waadt ber­ni­sches Unter­ta­nen­land war. Ihm war auch die Geschich­te des Major Davel bekannt. In sei­ner Vor­re­de zur 1805 erneut publi­zier­ten “His­toire du Major Davel” hielt er fest: Par­mi les vic­ti­mes nombreu­ses du régime détruit en 1798, nulle n’a plus de droits à nos reg­rets, que le Major Davel de Cully.

Einem Freund schrieb er: Ich lei­de und füh­le mich gede­mü­tigt, denn ich muss mir sagen: Du hast Stolz, Mut und Tugen­den, aber das Gesetz ver­bie­tet dir, sie zu gebrau­chen, und dein stol­zer Geni­us muss sich unter der ver­ächt­li­chen Inso­lenz eines Patri­zi­ers oder unter der Fer­se eines süßen Aris­to­kra­ten beu­gen. Gro­ßer Gott; […] Ich erken­ne die­ses Land nicht als mein Vater­land an. Möge der Him­mel die­ses gede­mü­tig­te Volk rächen, …

Als ihm eines Tages ein Ber­ner bei einer Aus­ein­an­der­set­zung ent­ge­gen­schleu­der­te: Was soll die­se Hal­tung? Haben Sie ver­ges­sen, dass ihr unse­re Unter­ta­nen seid?” beschloss de la Har­pe kur­zer­hand aus­zu­wan­dern. Einem Ange­bot, zwei jun­ge rus­si­sche Ade­li­ge auf einer Rei­se nach Ita­li­en und Mal­ta zu beglei­ten, nahm er des­halb noch so ger­ne an. In Nea­pel trat er einer Frei­mau­rer­lo­ge bei. Zurück in Rom erwar­te­te ihn ein Brief aus Peters­burg mit dem Ange­bot der rus­si­schen Zarin Katha­ri­na II., sei­ne bei­den Schütz­lin­ge nach Hau­se zu bringen.

Er traf im Janu­ar 1783 in Peters­burg ein, — und blieb für 11 Jah­re!  Denn Katha­ri­na II. such­te einen Fran­zö­sisch­leh­rer für ihre bei­den Enkel Alex­an­der und Kon­stan­tin, und da kam La Har­pe wie geru­fen. Aber die­ser hat­te Grös­se­res im Sinn: In einem Memo­ran­dum leg­te er der Zarin dar, dass die bei­den Prin­zen eine umfas­sen­de Bil­dung in Phi­lo­so­phie, Geo­gra­phie und vor allem Geschich­te bräuch­ten. Die Zarin notier­te: Wer das geschrie­ben hat, ist offen­sicht­lich fähig, mehr als nur Fran­zö­sisch zu unter­rich­ten!

La Har­pe wur­de so zum Erzie­her Alex­an­ders, und die Zarin, die ihrer­seits mit auf­klä­re­ri­schen Ideen lieb­äu­gel­te, hielt trotz der vie­len Hof­in­tri­gen gegen den repu­bli­ka­nisch den­ken­den Schwei­zer ihre schüt­zen­de Hand über ihn. Doch dann brach die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on aus, und man ver­such­te, La Har­pe mehr denn je als Jako­bi­ner und Revo­lu­tio­när anzu­pran­gern. Dazu kam, dass er 1790 in einer Arti­kel­se­rie im “The Lon­don Chro­ni­cle” die Ber­ner Herr­schaft über die Waadt anpran­ger­te, wor­auf Bern ent­rüs­tet die Aus­wei­sung La Harpe’s aus Russ­land forderte.

Zwar ging die Zarin nicht dar­auf ein, aber Ende 1794 liess sie den Erzie­hungs­auf­trag aus­lau­fen. Der zukünf­ti­ge Zar liess ihm mit­tei­len: Mögen Sie sich erin­nern, dass sie hier einen Mann zurück­las­sen, der Ihnen erge­ben ist, der Ihnen gar nicht genug dan­ken kann, der Ihnen alles ver­dankt … Die­se Ver­bun­den­heit Alex­an­ders mit la Har­pe soll­te sich spä­ter für die Schweiz noch als emi­nent wich­tig erweisen!

La Har­pe, der inzwi­schen gehei­ra­tet hat­te, kehr­te mit dem Ver­dienst­kreuz des Hei­li­gen Vla­di­mir, im Rang eines Obers­ten und wohl­ver­se­hen mit einer Pen­si­on zurück in sei­ne Hei­mat. Da die Waadt ihm als gefähr­li­chem Unru­he­stif­ter ver­schlos­sen war, liess er sich in Genf nie­der. Doch der Kampf um die Unab­hän­gig­keit der Waadt ging nun erst rich­tig los.

Dazu mehr am kom­men­den Don­ners­tag, den 27. Janu­ar.

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