Der His­torik­er Benedikt Mey­er schildert im Blog des National­mu­se­ums anschaulich, warum die Gross­mächte am Wiener Kongress zur Ein­sicht kamen, dass für das Macht­gle­ichgewicht in Europa eine neu­trale Schweiz wohl das Beste wäre.
Wikipedia fasst das so zusam­men: Eine neu­trale Schweiz erwies sich für die beteiligten Gross­mächte als sin­nvolle Lösung im Rah­men der umfassenden Neuord­nung der Grenzziehun­gen und poli­tis­chen Ver­hält­nisse in Europa, nach­dem zuvor ver­schieden­ste andere Vorschläge für das Ter­ri­to­ri­um der Alten Eidgenossen­schaft gemacht wor­den waren. So hät­ten sowohl Frankre­ich als auch Öster­re­ich die Schweiz gerne als Satel­liten­staat beherrscht, Preussen wollte die Schweiz in den Deutschen Bund eingliedern, sog­ar die Ein­rich­tung eines Kön­i­gre­ichs auf dem Gebi­et der Schweiz wurde disku­tiert. Der His­torik­er Andreas Suter führt es auf diese «Vielzahl von sich über­schnei­den­den und gegen­seit­ig auss­chliessenden Plä­nen»  zurück, dass sich let­ztlich keine Macht durch­set­zen kon­nte und die Unab­hängigkeit der Schweiz erhal­ten blieb, zumal auch in der Schweiz selb­st die Mei­n­un­gen zu den disku­tierten Lösun­gen stark auseinan­dergin­gen.

In Wien kon­nten die Ver­hand­lun­gen wegen des napoleonis­chen 100 Tage-Inter­mez­zos nicht abgeschlossen wer­den, weshalb man sich im Novem­ber 1815 noch ein­mal im jet­zt defin­i­tiv besiegten Frankre­ich in Paris traf. Charles Pictet de Rochemont sollte dort für die Eidgenossen­schaft das best­mögliche Ergeb­nis zu erre­ichen ver­suchen. Neben der Forderung, das Fort in Hünin­gen vor den Basler Stadt­toren zu schleifen und eine Entschädi­gung für die Kriegskosten auszuhan­deln, stand im Mit­telpunkt die Erar­beitung und Rat­i­fizierung der Neu­tral­ität­sak­te für die Schweiz.

Pictet traf in Paris erneut auf den Grafen Kapodis­trias, der ihm, wie wir wis­sen, sehr gewogen war. Und wieder kam ihm seine land­wirtschaftliche Ver­gan­gen­heit zugute: Der neue franzö­sis­che Pre­mier­min­is­ter, der Graf von Riche­lieu, hat­te viele Jahre dem rus­sis­chen Zaren gedi­ent und als Gou­verneur von Odessa das Meri­no-Schafzucht­spro­jekt unter der Leitung von Pictets Sohn überwacht und gefördert.

Das Ver­trauen der bei­den Män­ner in Pictet zahlte sich aus, als es darum ging, die defin­i­tive und völk­er­rechtlich gültig Neu­tral­ität­serk­lärung auszuar­beit­en: Kapodis­tria, der mit der Abfas­sung der Erk­lärung beauf­tragt wor­den war, bat den Gen­fer, dies an sein­er Stelle zu tun; er würde sie dann seinen Kol­le­gen als sein eigenes Werk präsen­tieren. Der Zeit­druck war so gross, dass Pictet ihm nicht ein­mal mehr den Entwurf unter­bre­it­en kon­nte.

Das Geheim­nis wurde gut gehütet, so dass mehrere Min­is­ter und Diplo­mat­en ihm mit­teil­ten, dass er mit ihrem Werk zufrieden sein würde. Unter dem Titel “Akte der Anerken­nung und Garantie der immer­währen­den Neu­tral­ität der Schweiz und der Unver­let­zlichkeit ihres Gebi­etes” (Déc­la­ra­tion des Puis­sances por­tant recon­nais­sance et garantie de la neu­tral­ité per­pétuelle de la Suisse et de l’in­vi­o­la­bil­ité de son ter­ri­toire ) wurde sie am 20. Novem­ber 1815 von den Min­is­tern Öster­re­ichs, Frankre­ichs, Großbri­tan­niens, Por­tu­gals, Preußens und Rus­s­lands unterze­ich­net. Spanien trat dem Abkom­men kurz darauf bei. Die wichtig­sten Pas­sagen laut­en wie fol­gt:

Die unterze­ich­nen­den Mächte […] geben durch die vor­liegende Urkunde eine formelle und authen­tis­che Anerken­nung der immer­währen­den Neu­tral­ität der Schweiz ab, und sie garantieren ihr die Integrität und Unver­let­zlichkeit ihres Ter­ri­to­ri­ums in seinen neuen Gren­zen […] Die unterze­ich­nen­den Mächte […] erken­nen durch die vor­liegende Urkunde … an, dass die Neu­tral­ität und Unver­let­zlichkeit der Schweiz und ihre Unab­hängigkeit von jedem aus­ländis­chen Ein­fluss in den wahren Inter­essen der Poli­tik ganz Europas liegt.(aus dem Archiv der Fam­i­lie Pictet)

Ein beson­ders geschick­ter Schachzug Pictets bestand darin, im Ver­trag­s­text sel­ber  “die Garantie” der Gross­mächte sich bewusst nur auf das Ter­ri­to­ri­um der Eidgenossen­schaft beziehen zu lassen und für die Neu­tral­ität den Aus­druck “Anerken­nung” zu wählen:
Der Begriff Anerken­nung, in ein­er Zeit, in der das Wort in der Diplo­matie zählte, wurde nicht zufäl­lig gewählt. Man kann per def­i­n­i­tionem nur etwas anerken­nen, was schon vorher bestanden hat. (…)
Seit mehreren Jahrhun­derten beze­ich­nete sich die Eidgenossen­schaft als neu­tral, ohne dass ihre Neu­tral­ität inter­na­tion­al anerkan­nt wor­den wäre. Sie wurde daher nicht immer respek­tiert. Franzö­sis­che, rus­sis­che und öster­re­ichis­che Armeen hat­ten 1799 ihr Ter­ri­to­ri­um ver­wüstet. Obwohl sie in der Medi­a­tion­sak­te vom 19. Feb­ru­ar 1803 ver­ankert war, war die Schweiz im Kaiser­re­ich ein Vasal­len­staat Frankre­ichs, eines Ver­bün­de­ten, der ihm Reg­i­menter stellen sollte.

Franzö­sis­che Trup­pen durch­querten 1809 ihr Ter­ri­to­ri­um. Man sah, wie die Alli­ierten 1813 das Gle­iche tat­en, obwohl die eid­genös­sis­che Tagsatzung den Herrsch­ern in Frank­furt eine Neu­tral­ität­serk­lärung zugestellt hat­te. Öster­re­ichis­che Trup­pen aus Ital­ien über­querten die Schweiz 1815 nach dem Wiener Kongress erneut, allerd­ings mit der Zus­tim­mung der Kan­tone, die gegen den Rat von Pictet erteilt wurde, während Schweiz­er Trup­pen in die Franche-Comté und das Land von Gex ein­drangen und ohne Ruhm an der Inva­sion des in Water­loo besiegten Frankre­ichs teil­nah­men.

Die Neu­tral­ität der neuen Schweiz, die nun zweiundzwanzig Kan­tone umfasst, ist nun feier­lich, endgültig und dauer­haft anerkan­nt, sie ist ein für alle Mal anerkan­nt. Sie tritt damit in das Völk­er­recht ein und wird nie mehr ver­let­zt wer­den.

Charles Pictet de Rochemont spielte auch noch ein Jahr später am Turiner Kongress 1816 den eid­genös­sis­chen Unter­händler, am dem es vor allem um die defin­i­tive Grenzziehung rund im die Stadt Genf ging. Dann zog er sich auf sein geliebtes Landgut in Lan­cy zurück, pub­lizierte weit­er­hin fleis­sig und starb 1824  hochgeehrt als “Con­seiller d’Etat d’honneur à vie” sein­er Vater­stadt.

Die Ger­adlin­igkeit und gewin­nende Art Pictets, die ihm diese Erfolge ermöglichte, wird in den Zeilen sicht­bar, die er dem Gen­fer Staat­srat bei sein­er Rück­kehr aus Wien schrieb:
Wir möcht­en uns dazu beglück­wün­schen, dass wir keine dieser dubiosen Mit­tel ange­wandt haben, welche die Diplo­matie toleriert, die aber fein­füh­li­gen Men­schen zuwider sind. Wir haben nicht als Intri­g­an­ten, son­dern als Ehren­män­ner gear­beit­et. Wir waren erfol­gre­ich, ohne Geld oder Frauen einzuset­zen. Indem wir Genf inter­es­sant macht­en, macht­en wir ihm Fre­unde, und wir erfuhren so viel Auf­nahme, so viel Wohlwollen, so viel Gun­st von Seit­en der Machthaber, die der Umstand aus allen Län­dern Europas zusam­men­führte. dass wir vielle­icht ein wenig dazu beige­tra­gen haben, den Namen Genf zu ehren und unserem geliebten Vater­land neuen Wohl­stand zu bere­it­en, wenn die Vorse­hung es zulässt, dass es die Prü­fun­gen, die es erwartet, glück­lich über­ste­ht.

Wir bleiben auch in der näch­sten Folge in der Romandie. Sie ist einem Waadtlän­der gewid­met, der eben­falls entschei­dend dazu beige­tra­gen hat, dass die tur­bu­lente Geschichte der Eidgenossen­schaft zwis­chen 1798 und 1815 ein glück­lich­es Ende nahm, — und dies wie immer

am kom­menden Don­ner­stag, den 20. Jan­u­ar.

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