Nach der Völk­er­schlacht bei Leipzig im Okto­ber 1813 war der Sturz Napoleons nur noch eine Frage der Zeit. Deshalb bildete sich im — noch franzö­sis­chen — Genf eine geheime Regierung, an der sich auch Pictet de Rochemont beteiligte. Als im Jan­u­ar 1814 dann öster­re­ichis­che Trup­pen in Genf ein­marschierten, trat sie an die Öffentlichkeit. Obwohl noch nicht durch eine Wahl legit­imiert, war rasches Han­deln ange­sagt: Eine Dreierdel­e­ga­tion mit Pictet reiste unverzüglich nach Basel, wo  der rus­sis­che Zar, der öster­re­ichis­che Kaiser und der preussis­che König auf dem Durch­marsch nach Frankre­ich Halt gemacht hat­ten.

Die Gen­fer wur­den von deren Min­is­tern wohlwol­lend emp­fan­gen. Man begrüsste die Wieder­her­stel­lung der poli­tis­chen Unab­hängigkeit Gen­fs, brachte auch schon einen Anschluss an die Eidgenossen­schaft ins Spiel. Mit seinem Wun­sch, Genf auf Kosten von Frankre­ich und Savoyen mit neuen Gren­zen bis zum Jura und zum Salève auszus­tat­ten, drang Pictet allerd­ings nicht durch. Dafür bot ihm der Berater des Zaren Baron von Stein eine Stelle als Gen­er­alsekretär für die Ver­wal­tung der eroberten franzö­sis­chen Gebi­ete an. Pictet sagte zu: Seit ich den schreck­lichen Ruf “Paris soll bren­nen! Paris soll bren­nen!” durch die Rei­hen hallen höre, kommt es mir vor, als wäre ich wirk­lich schuldig, wenn ich nicht die Gele­gen­heit ergriffe, die mir die Vorse­hung in die Hand gibt, um dazu beizu­tra­gen, diese schreck­liche Katas­tro­phe abzuwen­den.
Doch der mas­sive Wider­stand der Bevölkerung ver­hin­derte die alli­ierten Pläne.

Pictet reiste nun im Auf­trag der Gen­fer Regierung nach Paris, wo die Sieger zwei Monate lang einen Frieden­s­plan mit Frankre­ich aushan­del­ten. Es gelang ihm, vom neuen Herrsch­er Lud­wig XVIII. emp­fan­gen zu wer­den, welch­er der Stadt huld­voll auch von franzö­sis­che Seite ihre Unab­hängigkeit bestätigte. Anson­sten ging es ihm wie Trox­ler in Wien: Die Mächti­gen hat­ten Wichtigeres zu tun, als sich die Anliegen des Vertreters ein­er kleinen Stadt anzuhören. Oft wartete Pictet stun­den­lang verge­blich auf eine Audienz, und als es ihm ein­mal gelang, vom Zar emp­fan­gen zu wer­den, inter­essierte sich dieser lediglich für die Schafzucht der Pictets bei Odessa …

Doch Pictet gab nicht auf und reiste mit ein­er kleinen Del­e­ga­tion zum im gle­ichen Jahr eröffneten Wiener Kongress. Ende Sep­tem­ber fand sich alles an Ort und Stelle ein: Kaiser, Könige, Min­is­ter, eine Vielzahl kleiner­er Herrsch­er, Prinzen, Vertreter freier Städte und Bittsteller aller Art drängten sich in der viel zu kleinen Haupt­stadt. Der Kongress begann mit Beratun­gen. Die Alli­ierten waren in vie­len Punk­ten ges­pal­ten. Wochen vergin­gen mit informellen Gesprächen, auch mit Bällen, denn in Wien wurde schon immer gerne getanzt, mit Fes­ten und Empfän­gen, von denen ein­er prächtiger als der andere war.

Die Gen­fer nutzten diese Zeit, um ein Net­zw­erk von Sym­pa­thisan­ten für ihre Sache aufzubauen. Diplo­matie ist zu einem großen Teil eine Sache der Beziehun­gen. Pictet und seine Kol­le­gen wur­den von den Herrsch­ern in Audienz emp­fan­gen, die alle Wohlwollen für Genf bekun­de­ten; sie waren angenehm über­rascht über das Inter­esse, das über­all für das geweckt wurde, was Pictet in einem sein­er Briefe “unser Staat­satom” nan­nte. Die Gen­fer Abge­ord­neten wur­den zu Fes­ten ein­ge­laden und knüpften zahlre­iche Kon­tak­te. (aus dem Archiv der Fam­i­lie Pictet)

Etwas sarkastisch berichtete er nach Hause: Der Aufen­thalt in Wien bietet uns neben anderen Kuriositäten auch den Anblick von Herrsch­ern in Frack und Klam­mer­schuhen, die Walz­er tanzen und sich wie Philoso­phi­es­tu­den­ten um die Frauen drän­gen. Meine Güte! Es lebe die Würde für gekrönte Häupter! Ein biss­chen Pres­tige macht sich in der Welt sehr gut. Man sollte der Fan­tasie freien Lauf lassen und diejeni­gen, die mit göt­tlichem Recht über die Natio­nen gebi­eten, mit einem Heili­gen­schein umgeben …

Und wieder kamen ihm seine land­wirtschaftlichen Ken­nt­nisse und seine Pub­lika­tio­nen zugute. Sog­ar Met­ter­nich, der mächtige öster­re­ichis­che Aussen­min­is­ter, holte sich bei ihm Ratschläge. Dazu kam, dass die beza­ubernde Gat­tin eines der Gen­fer Del­e­ga­tion­steil­nehmer offen­sichtlich diversen ein­flussre­ichen “Her­ren der Schöp­fung” den Kopf ver­drehte …
Pictet ver­suchte erneut, den Siegermächt­en Gebi­et­szuschläge für Genf abzurin­gen, die eine direk­te Verbindung zur Eidgenossen­schaft ermöglichen wür­den. Im Gegen­satz zur zer­strit­te­nen eid­genös­sis­chen Del­e­ga­tion gelang es ihm, sich die Achtung der alli­ierten Ver­hand­lungspart­ner zu erwer­ben, — allen voran des rus­sis­chen Gesandten Grafen Kapodis­trias, der 1813 in Zürich angesichts der eid­genös­sis­chen Stre­it­igkeit­en schi­er verzweifelt war. Und tat­säch­lich: Am 9. Juni 1815 erhielt Genf zwar nicht alle erwün­scht­en Ter­ri­to­rien, aber einen defin­i­tiv­en direk­ten Zugang zum Kan­ton Waadt.

Anlässlich der 100 Tage-Herrschaft Napoleons war Pictet nach Hause geeilt, wo er das Kom­man­do der mit einem eid­genös­sis­chen Kontin­gent ver­stärk­ten Gen­fer Trup­pen über­nahm. Nach der defin­i­tiv­en Nieder­lage des franzö­sis­chen Kaisers bei Water­loo rück­ten die Alli­ierten wieder in Frankre­ich ein, und im Sep­tem­ber fol­gte die näch­ste Kon­ferenz in Paris. Genf war im Mai 1815 defin­i­tiv zur Eidgenossen­schaft gestossen, worauf sich die Tagsatzung beeilte, Pictet erneut zu den Ver­hand­lun­gen zu schick­en. Mit etwas “under­state­ment” schrieb dieser:
Ich bin noch dabei zu ver­ste­hen, wie und warum man ein Auge auf mich gewor­fen hat, der ich nur meine Felder kenne und statt eines “Staats­man­nes” nur ein “Stall­men­sch” bin. Aber ich werde mein Bestes tun, wenn man mir erlaubt, in meinem Sinne zu arbeit­en, d.h. mit dem Ziel, die Schweiz frei, unab­hängig und im eige­nen Land respek­tiert zu machen.

Denn dies­mal stand ein ungle­ich wichtigeres Ver­hand­lungs­the­ma auf der Trak­tanden­liste: Die defin­i­tive poli­tis­che Stel­lung der Eidgenossen­schaft inner­halb des grossen europäis­chen Mächtekonz­erts!

Darüber mehr am kom­menden Don­ner­stag, den 13. Jan­u­ar.

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