Als Johann Rudolf Wettstein* 1648 in den Verhandlungen auf dem Westfälischen Friedenskongress auf die Souveränität der Eidgenössischen Orte drängte und sich nicht mehr auf die alten kaiserlichen Privilegien berief, war das der Einflüsterung des französischen Gesandten geschuldet. Es war Teil der Strategie, die Alte Eidgenossenschaft verstärkt unter die Kontrolle Frankreichs zu bringen. Der Plan funktionierte.
Als 1663 eine Delegation die Allianz mit Frankreich beschwor, machte Ludwig XIV. deutlich, wer das Sagen hatte: Die Gesandten aus den Orten – alles Bürgermeister, Schultheissen oder Landammänner und die höchsten Würdenträger der Eidgenossenschaft – wurden in Paris recht eigentlich vorgeführt und zeremoniell gedemütigt (alle Auszüge aus Holenstein. Mitten in Europa)
Der König konnte sich diesen Affront leisten, weil er wusste, in welcher Abhängigkeit sich die damalige Machtelite in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht befand. Im Zentrum: die Soldgeschäfte.
Besonders verwundbar waren die massgeblichen politischen Kreise in der Eidgenossenschaft in ihren Interessen als Militärunternehmer in französischen Diensten. Der König konnte Druck ausüben, indem er schweizerische Soldkompanien entliess oder diese zu sogenannten Halbkompanien zurückstufte, was für die eidgenössischen Militärunternehmer mit empfindlichen Einnahme- und Prestigeverlusten verbunden war. …
Die französische Diplomatie wusste um die Rivalitäten zwischen den regierenden Geschlechtern und um die Konkurrenz zwischen den Orten, die eine konsequente Oppositionspolitik der Orte gegen Frankreich von vornherein unmöglich machten. … Der König konnte die eidgenössischen Eliten seine Macht auch spüren lassen, indem er Kompanien beziehungsweise Hauptmannsstellen Familien aus einem anderen Kanton übertrug.
Am weitesten trieb der König seine Personalpolitik, wenn er Kompanien und Hauptmannsstellen den regierenden Geschlechtern ganz entzog und sie Männern übergab, die nicht aus der traditionellen eidgenössischen Elite stammten. Er schuf sich auf diese Weise Kreaturen, die das Vertrauen ihres hohen Patrons und Förderers mit treuer Ergebenheit honorierten.
Der französischen Politik gab die starke materielle und symbolische Abhängigkeit der eidgenössischen Machteliten von französischen Ressourcen manches Instrument an die Hand, um Druck aufzubauen und Loyalität zu erzwingen.
Auch andere Mächte — z.B. der Papst, Spanien, England — versuchten mit Hilfe diplomatischer Vertretungen ihre Interessen bei den mächtigen Familien durchzusetzen:
Zu den Aufgaben eines Diplomaten gehörte es allgemein, den Einfluss seines Dienstherrn in der Eidgenossenschaft bestmöglich zu stärken und die Kreise der rivalisierenden Mächte zu stören. Beides hing eng miteinander zusammen; einen Misserfolg des spanischen Gesandten konnte der französische Ambassador immer auch als Erfolg für sich verbuchen sowie natürlich auch umgekehrt.
Hauptsächlich waren Diplomaten damit beschäftigt, die Informations- und Nachrichtenlage in den einzelnen Orten zu erkunden und ihren Monarchen und Ministerien Bericht zu erstatten. Dies erforderte die intensive Pflege eines Netzes von verlässlichen Informanten bis in die oberste Etage der Machtelite der Orte.
Besonders geeignet dafür war natürlich die Tagsatzung:
Die oftmals mehrwöchigen Tagsatzungstreffen in der Bäderstadt Baden boten den Gesandten aus den Orten wie den fremden Diplomaten bei Banketten, Besuchen und Gegenbesuchen in den Gasthäusern der Tagsatzungsgesandten, bei gemeinsamen Besuchen von Gottesdiensten, Theater- und Konzertveranstaltungen sowie der Bäder vielfältige Gelegenheiten zu informeller Geselligkeit und für Unterredungen auch ausserhalb der Sitzungen.
Es war eine kleine Machtelite, die dort die Aussenpolitik der Alten Eidgenossenschaft steuerte. Und sie nahm selbstverständlich ihre eigenen Interessen wahr:
Die Aussenbeziehungen eröffneten Perspektiven für militärunternehmerische und kommerzielle Geschäftsmöglichkeiten, die ihrerseits wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Absicherung der Machtstellung der politischen Eliten in den Orten bildeten. Die Herrschaft im Innern und die Verflechtung nach aussen stützten sich gegenseitig.
Man muss deshalb — wenn man schon von Souveränität der Alten Eidgenossenschaft im 17. und 18. Jahrhundert sprechen möchte — ihren toxischen Aspekt wahrnehmen. Und es wird verständlich, warum Ignaz Troxler, der Vorkämpfer für eine wahrhaft demokratische Schweiz, Vater des Zweikammersystems und damit der Bundesverfassung von 1848, das ganze Soldwesen in der Alten Eidgenossenschaft als fatale Abirrung vom ursprünglichen Bundesgedanken anprangerte.
Wie extrem damals die Orte von ausländischem Geld — den sogenannten “Pensionen” — abhängig waren und wie sich diese Abhängigkeit direkt auf die politischen Strukturen in der Alten Eidgenossenschaft auswirkte, wird Thema der nächsten Folge
am Donnerstag, den 2. Dezember sein.
*Wettstein war ohne Zweifel ein fähiger Politiker, aber weit entfernt von heutigen demokratischen Prinzipien: Im Bauernkrieg von 1653 liess er die sieben Baselbieter Anführer hinrichten, die für soziale Gerechtigkeit gekämpft hatten.
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