Im Kapitel “Der Eintritt in den Weltstaat” setzt sich von Pechmann mit den Fragen auseinander
— ob ein Verzicht der Nationalstaaten auf ihr Souveränität überhaupt möglich ist
— was die Begründung für einen solchen dramatischen Schritt wäre
— und welche Ursachen diesen Schritt zwingend nötig machen
Die Idee eines solchen Verzichts erscheint uns heute noch irreal, obwohl — wie von Pechmann festhält — die Idee der Souveränität und mit ihr die souveränen Nationalstaaten, vor ungefähr 400 Jahren entstanden ist und daher auch wieder verschwinden kann. Verfasste Gemeinwesen ohne Souveränität sind widerspruchsfrei denkbar, also auch möglich. Sie sind darüber hinaus in Gestalt der Schweizer Kantone, der deutschen Bundesländer oder der US-amerikanischen Staaten auch wirklich. Der grosse englische Historiker und Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee stellte sicher mich Recht fest:
Der Kult der Souveränität ist zur wichtigsten Religion der Menschheit geworden. Ihr Gott verlangt Menschenopfer.
Die Debatten um die Möglichkeit eines “Weltstaats” gehen bis in die Antike zurück. Cicero träumte von einem weltumspannenden Imperium Romanum, Augustinus von einem universalen “Gottesstaat”. In der Neuzeit wurde der Weltstaat
zunächst als ein universelles, alle Völker verbindendes Recht gedacht, das dem von den jeweiligen souveränen Staaten gesetzten Recht zugrundeliegt. Dieses universelle Recht galt, im Unterschied zum positiven (vom Menschen gesetzten) Recht, als das “natürliche Recht”, das durch die Vernunft erkennbar sei, und als dessen gesetzgebende Macht entweder theistisch der christliche Gott oder deistisch ein höheres Vernunftwesen angesehen wurde.
Der deutsche Universalgelehrte, Jurist und Mathematiker Christian Wolff sprach im 18. Jahrhundert von einer civitas maxima als einer Gemeinschaft, die nicht aus Individuen, sondern aus Staaten zusammengesetzt sei. Aus dem “natürlichen Recht” entspringe … nach innen das Recht eines jeden Staates, sich selbst zu erhalten und zu vervollkommnen, und nach aussen die Pflicht der Staaten, den anderen in ihrem Streben nach Selbsterhaltung und ‑vervollkommnung beizustehen. Diese civitas maxima war für Wolff bereits da; sie war der gleichsam unsichtbare Weltstaat. Insofern brauchte er auch nicht von den Völkern willentlich anerkannt zu werden; er wurde durch die Vernunft erkannt.
Ganz ähnlich postulierte im 20. Jahrhundert der eminente Rechtswissenschaftler Hans Kelsen in seiner “Reinen Rechtslehre”, dass der Weltstaat gleichsam axiomatisch als Bedingung allen positiven Rechts vorausgesetzt werden müsse:
Kelsen ging davon aus, dass das Völkerrecht seine Rechtswirksamkeit nicht dadurch erhält, dass es durch die souveränen Einzelstaaten in geltendes Recht umgesetzt wird, sondern dass umgekehrt die Verfassungen der jeweiligen Staaten ihre Rechtsverbindlichkeit letztlich nur aufgrund des Völkerrechts erhalten, dass also Staaten erst mittels ihrer Anerkennung durch die Staatenwelt als Staaten existieren. Für ihn ist daher nicht der souveräne Nationalstaat die oberste Instanz, sondern das Völkerrecht, da alle nationalen Rechtssysteme in ihm eine gemeinsame Quelle haben. Damit wurde die Idee einer “Regierung durch das Recht” zu einer allgemein gültigen Weltregel erhoben.
Eine andere Position nahm der grosse Königsberger Philosoph Immanuel Kant ein. Für ihn war der Weltstaat nicht schon da; aber seine künftige Existenz musste aus Gründen der Vernunft gefordert werden. Denn da es für ihn eine Forderung der reinen praktischen Vernunft, ein kategorischer Imperativ, war, dass auch die Staaten den gesetzlosen Naturzustand untereinander beenden und in einen gesetzlichen “bürgerlichen” Rechtszustand eintreten, müsse ein solcher Weltstaat als “Weltrepublik” auch als künftig existierend gedacht werden. Nach Kant ist es also so, dass der Grund für den Souveränitätsverzicht der Staaten in der rein praktischen Vernunft liegt, die eine solche Weltrepublik als einzig legitime Form des Staats anerkennt.
Doch Kant war kein Philosoph in irgendeinem “Wolkenkukucksheim”, fern jeglicher politischer Realitäten. Er erkannte sehr wohl, dass sich dieser “praktischen Vernunft” im politischen Alltag durchaus “unvernünftige Kräfte” entgegenstellten. Das mag auch der Grund gewesen sein, dass sich sein grosser Nachfolger G.W.F. Hegel über die “abstrakte” Moralität eines Sollens, das meint, mit dürftigen Prinzipien über die Wirklichkeit je schon hinaus zu sein, mokierte.
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Freitag, den 21. Juli.
Weil in der Diskussion zum Weltstaat immer wieder auf das Völkerrecht Bezug genommen wird und das Thema angesichts der militärischen Aggression Russlands gegenüber der Ukraine von höchster Aktualität ist, hier als kleine Gedächtnisauffrischung die kurze Definition des EDA:
Das Völkerrecht regelt die zwischenstaatlichen Beziehungen. Es erleichtert die internationale Zusammenarbeit und stellt verbindliche Regeln auf, welche die internationalen Beziehungen berechenbarer machen. Das Völkerrecht ist die Grundlage für Frieden, für Stabilität und für den Schutz der Menschen. Mit der weltweit zunehmenden Interdependenz wird es ständig weiterentwickelt.
— und eine etwas ausführlichere Beschreibung in einem Online-Lexikon für Kinder und Schüler — auch für Erwachsene durchaus lesenswert 😉
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