Im Heiligen Römischen Reich konkretisierte sich eine Reichsidee, die ihre Wurzeln zwar im Religiösen, ihre Entfaltung hingegen in handfester Machtpolitik hatte. Doch daneben oder dahinter lebte in Europa eine immer wieder aufbrechende Hoffnung auf eine grundlegende, weit radikalere Erneuerung menschlicher Existenz: der Traum vom Tausendjährigen Reich.
Das Mittelalter hatte vom Altertum — von den Juden und den ersten Christen — einen Schatz von Weissagungen geerbt, die in der von uns behandelten Zeitspanne neue turbulente Lebenskraft entfalteten. In der Sprache der Theologen, die hier die allein anwendbare Sprache zu sein scheint: es existierte da eine Eschatologie, das heißt eine Fülle von Lehren über die endgültige Bestimmung der Welt, eine im weitesten Sinn des Wortes chiliastische Vorstellung von einem prophezeiten Tausendjährigen Reich, das aber keineswegs auf tausend Jahre begrenzt, ja vielleicht überhaupt nicht begrenzt sein und eine ebenso glückliche wie vollkommen gute Menschheit hervorbringen würde. Diese Eschatologie, deren trostreiche Botschaft die offizielle Lehre der mittelalterlichen Kirche ihren Gläubigen vorenthielt, übte eine ebenso faszinierende wie andauernde Anziehungskraft auf die Gemüter aus. Einer Generation nach der andern bemächtigte sich zumindest zeitweilig die Erwartung eines plötzlichen, wunderbaren Ereignisses, das die Welt gänzlich verändern und nach einem letzten entscheidenden Kampf zwischen den Heerscharen Christi und den Horden des Antichrist die endgültige Bestimmung und Rechtfertigung der Weltgeschichte offenbar machen würde.
So schreibt der englische Historiker Norman Cohn in seinem anfangs der 60er-Jahre und inzwischen zu einem Klassiker gewordenen Buch “The Pursuit of the Millenium. Revolutionary Millenarians and Mystical Anarchists of the Middle Ages”, sogleich auf Deutsch übersetzt als “Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen”, — womit gleich angetönt ist, welche Gefahren für ihn mit diesen eschatologischen Vorstellungen verbunden sind.
So sieht er z.B. auch Karl Marx in dieser Tradition stehen, wenn er schreibt:
… Denn was Marx an den Kommunismus unserer Zeit weitergegeben hat, das war nicht die Frucht seines langjährigen Studiums auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und Soziologie, sondern eine halb-apokalyptische Phantasie, die ihm in seinen jungen Jahren von einer Masse obskurer Schriftsteller und Journalisten, beinahe ohne daß er es merkte, eingeflößt worden war. Der Kapitalismus ist eine absolute Hölle, worin eine immer kleinere Zahl enorm reicher Männer eine immer größere Masse von verelendeten Arbeitern ausbeutet und tyrannisiert — Kapitalismus als Mammutreich in den Händen von Herren, so grausam und heuchlerisch wie der Antichrist — Kapitalismus als Babylon, dem Untergang in einem Meer von Feuer und Blut verfallen, auf daß der Weg ins Tausendjährige Reich allgemeiner Gleichheit frei werde — diese Vision war um dasJahr 1840 der radikalen Intelligentsia Frankreichs und Deutschlands sehr geläufig.
Der reformierte Theologe Walter Nigg befasste sich seinerseits mit diesem Thema in seinem Buch “Das ewige Reich. Geschichte einer Hoffnung”. In seinem Vorwort hält er fest:
Von den Tagen der Propheten bis zur Gegenwart reicht die gespannte Ausschau nach der hereinbrechenden Gottesherrschaft und erweist sich als das grosse Licht in der Trostlosigkeit des menschlichen Daseins. Das ewige Reich ist eine Urwahrheit … Es gehört zu den grossen Themen des christlichen Abendlandes, dem Warten auf das Reich durch alle Jahrhunderte nachzugehen … Geschichtskenner haben “die Idee des Tausendjährigen Reiches als eines der schicksalhaftesten und folgenreichsten Gedanken der christlichen Entwicklung” bezeichnet. Es liegt in dieser immer wieder auflebenden Erwartung des Reiches eine eigentümliche Kraft, die den Menschen trägt und zugleich weit über seinen engen Horizont hinaushebt. … Die Reichserwartung hat beinahe übermenschliche Spannungen und gewaltige schöpferische Kräfte entbunden.
Aber wir haben im 20. Jahrhundert neben der Pervertierung der Marx’schen Vision eines “Tausendjährigen Reichs allgemeiner Gleichheit” in der blutigen Umsetzung durch Stalin, Mao, Pol Pot usw. eine noch pervertiertere Version im Nationalsozialismus erlebt:
Die Nationalsozialisten adaptierten auch den Begriff „Tausendjähriges Reich“, um nach der wechselvollen deutschen Geschichte eine Zeit der Kontinuität unter ihrer Herrschaft zu propagieren. So verkündete Adolf Hitler am 1. September 1933 offiziell, dass der von ihm geführte Staat ein „Drittes Reich“ sei, das „tausend Jahre“ dauern werde. Der Begriff „Tausendjähriges Reich“ sowie der Begriff „Drittes Reich“, wie ihn die Nationalsozialisten verwendeten, griffen die „Symbole apokalyptischer Geschichtsspekulation für die Endphase der Geschichte auf“. (Wikipedia). Heinrich Himmler, Reichsführer SS, sah sich bekanntlich als Reinkarnation Heinrichs I., der am Anfang des Heiligen Römischen Reichs stand.
Wir wollen uns in den kommenden Folgen etwas detaillierter mit der Geschichte dieser Reichserwartung auseinandersetzen und beginnen mit einer der dramatischsten Episoden in der frühen Neuzeit in Europa, dem Täuferreich in Münster, — und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 8. Oktober!
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