Otto von Habsburg hielt am Schluss seines Buches fest: Optimismus ist durchaus berechtigt, weil das echte Europa einen christlichen Gedanken verkörpert und die Zukunft der Religion gehört, — und wir haben uns die Frage gestellt, was es — gerade angesichts der galoppierenden Kirchenaustritte — mit diesem christlichen Gedanken heute denn auf sich haben soll.
Der berühmte Theologe Karl Rahner — für viele der bedeutendste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts — fällte das harte Urteil, Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein. Man muss sich einmal klar machen, was für eine Tragweite mit dieser Aussage verbunden ist: Rahner sieht die einzige Überlebenschance des Christentums in einer radikalen Umwandlung. Mit dieser Forderung steht er natürlich nicht allein: So berühmte Theologen und Psychologen wie Hans Küng, Eugen Drewermann, C.G. Jung stimmten ihm je auf ihre eigene Weise zu.
Aber was soll unter Mystik verstanden werden? Wikipedia: Der Ausdruck Mystik (von altgriechisch μυστικός mystikós ‚geheimnisvoll‘, zu myein ‚Mund oder Augen schließen‘) bezeichnet Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine solche Erfahrung.
Es geht in der Mystik also weniger um Dogmen oder religiöse Spekulationen, sondern um die Erfahrung einer anderen nicht-materiellen, spirituellen Dimension, — gleichgültig, auf welchem religiösen Hintergrund. Im Christentum ist es die Begegnung mit dem “inneren Christus”, dessen Kraft und Wahrheit Jeshua ben Joseph exemplarisch mit seinem Leben und Tod bezeugt hat. Alle grossen christlichen Mystiker und Mystikerinnen wie Meister Eckhart, Johannes Tauler, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Hildegard von Bingen, Jakob Böhme, Niklaus von Flüe — um nur ein paar bekannte zu nennen — verkündeten die eine zentrale Botschaft: Die Christuskraft ist in jedem Menschen da und führt zur Entwicklung unseres je individuellen göttlichen Wesenskerns, unserer ureigensten Individualität.
Die Gralserzählungen sprechen von ihr. Allerdings muss sie erst mittels des Abbaus oder der “Durchlichtung” unseres Egos Schritt um Schritt freigelegt werden.
C.G. Jung sprach — in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt — vom Prozess der Individuation, den wir alle zu durchlaufen haben:
„Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ‚Individuation‘ darum auch als ‚Verselbstung‘ oder als ‚Selbstverwirklichung‘ übersetzen. …
Auf dem Weg seiner Individuation ist der Mensch immer wieder gefordert, sich aktiv und bewusst den neu auftauchenden Problemen zu stellen und seine Entscheidungen vor sich selbst zu verantworten. Individuation bedeutet, sich nicht danach zu richten, „was man sollte“ oder „was im allgemeinen richtig wäre“, sondern in sich hinein zu horchen, um herauszufinden, was die innere Ganzheit (das Selbst) jetzt hier in dieser Situation „von mir oder durch mich“ bewirken will. Dabei verknüpft Jung die Individuation mit der menschlichen Freiheit und dem Gefühl der Würde, an dem der Prozess der Selbstwerdung sich ausrichtet und bemisst. (Wikipedia)
Es dürfte klar sein, dass hier nicht das Wort einer oberflächlichen hedonistischen Pseudo-Selbstverwirklichung geredet wird. Wer sich auf den Weg der Individuation — und damit der Mystik — begibt, geht unweigerlich durch schwierige Phasen in seinem Leben, weil die Konfrontation mit dem inneren “Schatten” unausweichlich wird. Aber wer sie durchsteht, macht die Erfahrung einer immer grösser werdenden inneren Freiheit, und bestätigt damit das Wort Jeshuas: Die Wahrheit wird euch frei machen.
Die ersten Christen nannten sich nicht Christen, sondern “Nachfolger des Weges” (engl. Followers of the Way). Erst im Laufe der Jahrhunderte begann sich die hierarchische, dogmatische Institution “Kirche” herauszukristallisieren, die Jeshua ben Joseph auf ein unerreichbares Podest hob und als “einzigen Sohn Gottes und Erlöser” vom Rest der Menschheit radikal abtrennte. Bei diesem Prozess, bei dem es unter Konstantin auch zu einem Zusammengehen mit der römischen Staatsgewalt kam, wurden wertvolle Dokumente des frühen Christentums bewusst vernichtet.
Welche Schätze so verloren gingen, zeigt zum Beispiel die Wiederentdeckung des sog. Thomas-Evangeliums 1945 in Nag Hammadi, das eine völlig neue Facette der Gestalt Jeshuas sichtbar macht. Und es ist kein Zufall, dass es im sich heute langsam herauskristallisierenden Integralen Christentum besonders gewürdigt wird.
Welche Perversionen das “offizielle” Christentum im Laufe der 2000 Jahre leider auch hervorbrachte — Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Religionskriege, Antisemitismus, Zwangsmissionierung, usw. — welch Hintansetzung der Frau bis heute — muss hier wohl nicht mehr besonders hervorgehoben werden. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass wir erst jetzt langsam reif dazu werden, das Beispiel und die Botschaft Jeshuas ben Josephs wirklich zu verstehen und zu verinnerlichen.
Doch — was haben all diese Überlegungen mit der Reichsidee zu tun? Nun, wer sich das Beitragsbild dieser Reihe etwas näher anschaut, kommt nicht umhin, das Buch des reformierten Theologen Walter Nigg zu entdecken, das er jener Idee widmete, die für viele Christen eine über Jahrhunderte tief im Inneren gehegte Hoffnung war, — und die sich einmal sogar auf der historischen Ebene zu verwirklichen suchte, aber in Blut und Asche versank.
Ihr ist die nächste Folge am Freitag, den 1. Oktober gewidmet.
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