Das Problem mit der Erfassung der weltweiten Armut jenseits von offiziellen, meist geschönten Verlautbarungen beginnt schon mit der Frage, was man unter “Arbeitslosigkeit” denn zu verstehen habe:
Für einige Erhebungen gilt es als arbeitslos, wer durch Behörden als “arbeitslos” registriert ist; damit gerät jedoch die nicht registrierte Arbeitslosigkeit aus dem Blick. Einige Erhebungen erfassen Teilzeitarbeiter wie Taglöhner:innen, Gelegenheitsarbeiter:innen oder Geringbeschäftigte als “arbeitslos”, andere wiederum nicht. Zudem erfassen diese Statistiken nicht, welcher Lohn für die Arbeit gezahlt wird, sodass kaum Rückschlüsse über die tatsächliche Lage der Armen gezogen werden können. Schliesslich wird in der Regel nur die Arbeit in Form von Lohnarbeit, nicht aber die in weiten Erdteilen verbreitete Subsistenz- oder Sklavenarbeit erfasst …
Wenn also Schätzungen wie die der US-amerikanische Behörde CIA oder der europäischen Behörde Eurostat die weltweite Arbeitslosenquote mit ca. acht Prozent und die Unterbeschäftigungsquote mit 30% der Weltbevölkerung angeben, dann dürften die wirklichen Quoten höher sein; sie erlauben zudem kaum Rückschlüsse auf das tatsächliche Leben der Armen.
Eine zweite Methode der Armutserfassung besteht darin, festzulegen, über wieviel Geld jemand verfügen muss, um ein anständiges Leben führen zu können. Wer weniger hat, ist dann “arm”, und wer seine Grundbedürfnisse kaum oder gar nicht befriedigen kann, ist “sehr arm”.
Falls man die erforderliche Geldsumme auf 2$ pro Tag festlegt, wie es die Weltbank tut, sind weltweit ca. 750 Millionen Menschen sehr arm.
wird der Betrag hingegen nach den jeweiligen nationalen Bruttosozialprodukten festgelegt, so lebt etwa die Hälfte der Weltbevölkerung, 3.5 Milliarden Menschen, in Armut. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen verfügen ca. 1,2 Milliarden Menschen über weniger als einen Euro pro Tag, und fast 1,5 Milliarden Menschen leben in sogenannter “mehrdimensionaler Armut”.
Aber auch diese Methode ist umstritten. Das Festlegen eines fixen Geldbetrags erscheint ziemlich willkürlich, und er sagt nichts über die tatsächliche Kaufkraft in den verschiedenen Ländern aus.
Von Pechmann bringt in seinem Buch aber eine noch viel tiefgehendere und radikalere Kritik:
Beide Methoden der Armutserfassung, die von der vorhandenen Arbeitslosigkeit oder einem festgelegten Geldbetrag auf den Umfang der Armut schliessen, sehen … die Ursache nicht im bürgerlich-kapitalistischen Eigentumsrecht, das den Nicht-Eigentümern den Zugang zur produzierten Masse der nützlichen Güter verschliesst, sondern, auf der Grundlage dieses geltenden Rechts, entweder im Mangel an Lohnarbeit oder im Mangel an verfügbarem Geld.
Sie setzen damit in der Tat voraus, dass die Klasse der Nicht-Eigentümer allein dann in den Besitz der für ihr Leben nötigen Güter gelangt, wenn sie entweder ihre Fähigkeiten als Arbeitskraft auf dem Markt verkauft, oder wenn sie — woher auch immer — über eine Geldsumme verfügt, um diese nötigen Güter zu kaufen. Dass es — trotz aller Anstrengungen, sie zu beseitigen — weltweite Armut gibt, bedeutet daher, dass beide Voraussetzungen für mindestens eine Milliarde Menschen nicht existieren und ihre Wirklichkeit nur in den Köpfen der Armutsbeseitiger hat. Um daher ein angemessenes Bild von der Welt der Armen zu gewinnen, genügen keine statistischen Erhebungen.
Mike Davis hat in seinem Buch “Planet of Slums” darauf hingewiesen, dass die Slumbevölkerung weltweit jedes Jahr um 25 Millionen pro Jahr zunimmt, — das ist fast dreimal die gesamte Bevölkerung der Schweiz!
Unbebautes Land, das Besetzern eine einigermassen sichere Perspektive bietet, ist … kaum noch zu haben, und die Neuzugezogenen finden sich am Stadtrand unter Bedingungen wieder, die als “Marginalität in der Marginalität” beschrieben werden oder in den drastischeren Worten eines verzweifelten Bagdader Slumbewohners als “halbes Sterben”. Die peri-urbane Armut — eine düstere Welt, die von den bäuerlichen Subsistenz- Solidargemeinschaften weitgehend abgeschnitten wurde, aber auch keine Verbindung zum kulturellen und politischen Leben einer klassischen Stadt besitzt — ist das radikal neue Gesicht der Ungleichheit ...
Von Pechmann zieht nach diesem kleinen Exkurs in die Welt der Reichen und der Armen das Fazit:
Stellen wir abschliessend die durch das geltende Eigentumsrecht getrennten Welten der Reichen und der Armen gegenüber, so muss man hinsichtlich des Sozialen, d.h. der Beziehungen der Menschen zueinander, von einer Fragmentierung der Weltgesellschft sprechen, die der Vorstellung einer gemeinsamen Lebenswelt Hohn spricht. (…)
Dass die Menschheit schon allein mit dieser Situation auf einer latenten Zeitbombe sitzt, dürfte klar sein.
Die nächste Folge kommt am Freitag, den 31. März.
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Franz Büchler
März 24, 2023
»Verlassen Sie mein Land!«, fordert der Landbesitzer einen Fremden auf.
Worauf ihn der Fremde fragt, woher er denn sein Land habe.
»Von meinem Vater«, war die Antwort.
»Und woher hatte der es?«
»Von seinem Vater und der von seinem Vater und so weiter!«
»Aber der eine Ihrer Vorfahren, der es als Erster besessen hat, wie ist er an das Land gekommen?«
»Er hat mit jemandem um das Land gekämpft!«
»Gut«, sagte der Fremde, »dann werde ich mit Dir um das Land kämpfen. Wenn es in Ordnung war, das Land so in Besitz zu nehmen, dann muss es auch in Ordnung sein, es auf dieselbe Weise zurückzuerobern. Und wenn es nicht in Ordnung war, nun, dann sollte es zurückerobert werden.«
Autor unbekannt