Wenn man nach historischen Ausprägungen des Gemeineigentums fragt, lassen sich drei Varianten unterscheiden:
● Die monarchisch-hierarchische Organisationsform
Der Eigentümer des gemeinschaftlichen Bodens war ein oft mythisch überhöhter Oberherr. Die Bevölkerung bearbeitete den Boden für die eigene Familie oder die Dorfgemeinde, war dem Oberherrn gegenüber abgabepflichtig und hatte Gemeinschaftsarbeiten zu leisten, z.B. beim Bau eines Bewässerungssystems.
Hier war die dörfliche Gemeinschaft gleichsam Zubehör des oberherrlichen Eigentums. Auf der Grundlage dieser Form des Gemeindeeigentums entstanden die Grossreiche der Ägypter, Babylonier oder Perser, aber auch Azteken und Inkas, die zur Verwaltung der Abgaben und zur Organisation der Gemeinschaftsarbeiten die Schrift, das Rechnungs- und Nachrichtenwesen entwickelt haben. (Sämtliche Auszüge aus Alexander von Pechmann, Die Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert)
● Die oligarchisch-plurale Organisationsform
Der Eigentümer des gemeinschaftlichen Bodens war die antike Polis oder die Civitas, eine städtische Gemeinschaft von Gleichen.
Die Aufteilung des Bodens erfolgte nach einem Plan, der von ausgewählten Bürgern, wie Drakon, Lykurg oder Solon, oder von Kommissionen vorgenommen wurde. Diese Aufteilungen waren, nicht zuletzt aufgrund der anwachsenden Bürgerschaft, einer ständigen und zudem politisch hoch umstrittenen Veränderung und Anpassung unterworfen.
Die Gemeinschaftsarbeiten der städtischen Bürgerschaft bestanden zum einen vor allem in der Ausbildung des Kriegswesens zum Schutz und zur Erweiterung des Territoriums und zum anderen im Bau von Kultstätten und städtischen Gebäuden sowie Anlagen zur Repräsentation der Gemeinschaft. … Diese städtische Form des Gemeineigentums wird als »antikes Gemeineigentum« bezeichnet.
● Die germanische Organisationsform
Die Eigentümer des gemeinschaftlichen Bodens waren die Dorf- und Stadtbewohner. Wie lange sich diese Tradition gerade in den alpinen Regionen bis ins 20. Jahrhundert erhalten hat, schildert der Theologe Leonhard Ragaz, der in Tamins aufwuchs, sehr anschaulich:
Die Gemeinde war … eine wirkliche Gemeinschaft, eine Kommune (cumin ist auch der romanische Name für Gemeinde):Diese Eigenschaft kam in einem umfassenden Charakteristikum zum Ausdruck: im Eigentum, anders gesagt: in den Besitzverhältnissen. Das Eigentum war nämlich zum weitaus grössten Teil nicht Privateigentum, sondern Gemeineigentum. Das Verhältnis zwischen beiden Formen war schätzungsweise so, dass das Privateigentum etwa einen Fünftel, wenn nicht weniger, des Gesamteigentums bildete.
Da waren die riesigen Wälder (…) Dass jeder Gemeindebürger (und es gab fast nur Bürger) aus diesen Wäldern das nötige Brenn- und Bauholz bezog, verstand sich von selbst, wie, dass ihre Beeren und was sie sonst geben konnten, allen gleich zugänglich waren. Sie gehörten wirklich, auch für das Empfinden, uns allen, waren unser Eigentum. Damit umgab uns eine gewaltige Atmosphäre der Freiheit und Weite, ähnlich dem grossen Leben des Waldes selbst.
Zu den Wäldern kamen die Alpen. Auch sie waren das freie, gleichmässige Eigentum aller. Es gab deren mindestens ein halbes Dutzend (…) Zu den Alpen kamen die Allmenden , das heisst die Gemeindeweiden. Sie hatten bei uns einen gewaltigen Umfang, einen bei weitem grösseren als die den Privaten gehörenden Wiesen und Äcker. (…)
Aber das war noch nicht alles. Das Recht der Gemeinschaft erstreckte sich auch weitgehend auf das Privateigentum. Das besonders in der Form der Atzung, das heisst der gemeinsamen Weide auch auf dem gesamten Wiesenland der Gemeinde. (…)
Aber auch das ist noch nicht alles. Es gehörten der Gemeinde selbstverständlich auch die Wasser, alle, die von den höchsten Tälern, zum Teil von den Gletschern her kommenden wie die tiefer unten entspringenden. Auch die Fische darin, wie in den Bächen und im Rheine … waren Gemeineigentum. Dieses sich weit über Berg und Tal erstreckende Bewässerungsnetz war wieder ein Reich für sich. … Sie bedeuteten eine Lebensader für das Dorf.
Und endlich, sozusagen als Krönung dieses Dorfkommunismus: Jede Familie bekam von der Gemeinde als erbliches Recht zugewiesen eine Wiese, einen Acker und einen grossen Garten für Gemüse. … Dieser Erbbesitz der Familie aus dem Gemeineigentum vererbte sich zunächst auf den ältesten Sohn, wo aber kein Sohn vorhanden war, auf die älteste Tochter. Wenn keine Kinder da waren, so verfiel er der Gemeinde. Das war also das, was wir mit gutem Recht den Dorfkommunismus der bündnerischen Gemeinde nennen dürfen.
Dazu kam aber noch etwas anderes. Dieser ganze umfassende Gemeindebesitz musste auch gemeinsam verwaltet werden. Das geschah durch gemeinsame Arbeit, welche “Gemeinwerk” hiess. Es erstreckte sich besonders auf die Anlage oder Pflege von Alp- und Waldwegen …, auf den Bau von Wuhren gegen die Gefahr der Wildbäche, sowie auf Ausrodung und Anpflanzung von Wald. … Gemeinsam verwaltet wurden besonders die Alpen. (…)
Und Ragaz verweist auf diese — aus heutiger Sicht erstaunliche — Tatsache:
Es war selbstverständlich, dass an das Gemeingut und die Gemeinarbeit viel mehr Eifer und Treue gewendet wurde als an das eigene Gut und die eigene Arbeit. - und er folgert daraus: Eine auf den Egoismus abstellende Ordnung erzieht selbstverständlich zum Egoismus, eine auf das Gemeinschaftsprinzip abstellende aber selbstverständlich zur Gemeinschaft. (aus Leonhard Ragaz, Mein Weg, Band 1)
Alle drei Formen des Gemeineigentums sind übrigens auch heute noch in etwas modifizierter Gestalt vorhanden:
So gibt es staatliches oder kommunales Eigentum, das durch Behörden verwaltet wird; es gibt genossenschaftliches oder kollektives Eigentum an Betrieben oder Wohnungen sowie öffentliches Eigentum zur gemeinsamen Nutzung, die sog. »Commons«, wie Parks oder öffentliche Gärten.
In der nächsten Folge wenden wir uns den sozialistischen Eigentumsordnungen zu, und dies wie immer am kommenden Freitag, den 28.Oktober
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