Wir haben gese­hen, dass sich die franzö­sis­chen Aufk­lär­er im Gefolge von Lahon­tans Erzäh­lun­gen des “imag­inären Aussen­seit­ers” bedi­en­ten, um ihre Kri­tik an der Gesellschaft des Ancien Régimes zu äussern.

Am bekan­ntesten wur­den die “Let­tre d’une Péru­vi­enne” der Madame de Graf­figny, in denen eine imag­inäre Inka-Prinzessin die ungerecht­en sozialen Struk­turen in Frankre­ich anprangerte und herbe Kri­tik am Patri­ar­chat übte.

Als sie für die zweite Auflage Verbesserungsvorschläge ein­holte, erhielt auch der junge Oekonom Jaques Tur­got ein Exem­plar des Buchs.
… zufäl­liger­weise haben wir eine Kopie sein­er Antwort – die aus­führlich und höchst kri­tisch, wen­ngle­ich äußerst kon­struk­tiv war. Tur­gots Text kön­nte kaum wichtiger sein, denn er markiert einen Schlüs­sel­mo­ment sein­er eige­nen Geis­te­sen­twick­lung: den Punkt, als er begann, seinen nach­haltig­sten Beitrag zum men­schlichen Denken – den Begriff materiellen wirtschaftlichen Fortschritts – in eine all­ge­meine Geschicht­s­the­o­rie zu fassen.

Tur­got nahm einen von den andern Aufk­lär­ern ent­ge­genge­set­zten Stand­punkt ein. Weil er für unser “tra­di­tionelles” Geschichts­bild so wichtig wurde, seien Graeber/Wengrow hier etwas aus­führlich­er zitiert (sämtliche Her­vorhe­bun­gen von mir):
In Wirk­lichkeit, so behauptete er, seien Frei­heit und Gle­ich­heit von Wilden kein Zeichen ihrer Über­legen­heit, son­dern ein Ausweis ihrer Unter­legen­heit, da dies nur in ein­er Gesellschaft möglich sei, in der alle Haushalte mehr oder min­der autark und somit alle Men­schen gle­icher­maßen arm seien. 
Mit der Entwick­lung von Gesellschaften schre­ite auch der tech­nis­che Fortschritt voran, so Tur­got. Natür­liche Unter­schiede zwis­chen den Einzel­nen in Begabung und Fähigkeit­en (die es schon immer gab) gewän­nen an Bedeu­tung und bilde­ten schließlich die Grund­lage für eine zunehmend kom­plexe Arbeit­steilung. Wir entwick­el­ten uns von ein­fachen Gesellschaften wie der der Wen­dat zu unser­er eige­nen kom­plex­en, »kom­merziellen Zivil­i­sa­tion«, in der Armut und Besit­zlosigkeit einiger – so bekla­genswert sie auch sein mögen – nichts­destoweniger die notwendi­ge Bedin­gung für den Wohl­stand der Gesellschaft als Ganzes ausmachten.

Ein paar Jahre später arbeit­ete Tur­got diesel­ben Gedanken in ein­er Vor­tragsrei­he über die Welt­geschichte aus. Seit eini­gen Jahren ver­trat er bere­its die Vor­rang­stel­lung des tech­nis­chen Fortschritts als Triebfed­er ein­er gesamt­ge­sellschaftlichen Verbesserung. In diesen Vorträ­gen arbeit­ete er dieses Argu­ment zu ein­er expliziten The­o­rie wirtschaftlich­er Entwick­lung aus: Gesellschaftliche Evo­lu­tion beginne stets mit Jägern, darauf folge eine Phase des Wan­der­hir­ten­tums, und erst dann werde die heutige Stufe urbaner kom­merzieller Zivil­i­sa­tion erre­icht. Diejeni­gen, die Jäger, Hirten oder prim­i­tive Bauern geblieben seien, stell­ten nichts anderes als Überbleib­sel früher­er Sta­di­en unser­er gesellschaftlichen Entwick­lung dar.

Auf diese Weise wur­den The­o­rien gesellschaftlich­er Entwick­lung – die heute so ver­traut sind, dass wir kaum noch über ihre Ursprünge nach­denken – erst­mals in Europa artikuliert: als direk­te Reak­tion auf die Macht indi­gen­er Kritik.

Inner­halb weniger Jahre tauchte Tur­gots Lehre von den vier Stufen ein­er Gesellschaft in den Vor­lesun­gen seines Fre­un­des und intellek­tuellen Ver­bün­de­ten Adam Smith (1723–1790) in Glas­gow auf und wurde von dessen Kol­le­gen zu ein­er all­ge­meinen The­o­rie der Men­schheits­geschichte aus­for­muliert: von Män­nern wie Lord Kames (1696–1782), Adam Fer­gu­son (1723–1816) und John Mil­lar (1735–1801). Das neue Par­a­dig­ma hat­te bald eine tief­greifende Wirkung darauf, wie sich europäis­che Denker und die europäis­che Öffentlichkeit im All­ge­meinen indi­gene Völk­er vorstellten

For­t­an wur­den alle auf der­sel­ben großen evo­lu­tionären Leit­er eingestuft, und zwar anhand der vorherrschen­den Meth­ode, mit der sie sich Nahrung beschafften. Auf die unter­ste Stufe, wo sie besten­falls einen Hin­weis darauf geben kon­nten, wie unsere fer­nen Vor­fahren gelebt haben mocht­en, ver­ban­nte man die »egal­itären« Gesellschaften; auf jeden Fall aber kon­nte man sie sich nicht mehr als gle­ich­w­er­tige Parteien in einem Dia­log darüber vorstellen, wie die Mit­glieder reich­er und mächtiger Gesellschaften sich in der Gegen­wart ver­hal­ten soll­ten. (…)

Tur­gots Fall zeigt sehr deut­lich, dass die Begriffe von Zivil­i­sa­tion, Evo­lu­tion und Fortschritt, die wir als Kern aufgek­lärten Denkens betra­cht­en, in jen­er kri­tis­chen Tra­di­tion tat­säch­lich rel­a­tive Neuzugänge sind. Vor allem aber macht er deut­lich, wie sich diese Begriffe als direk­te Reak­tion auf die Wucht der indi­ge­nen Kri­tik entwickelten.

Diese indi­gene Kri­tik an der europäis­chen Gesellschaft war, wie wir gese­hen haben, radikal.
Was als weit ver­bre­it­eter Aus­druck von Empörung und Entset­zen seit­ens der indi­ge­nen Amerikan­er begann (als diese erst­mals mit der europäis­chen Lebensweise in Berührung kamen), entwick­elte sich durch tausend Gespräche in einem Dutzend Sprachen von Por­tugiesisch bis Rus­sisch schließlich zu einem Stre­it über das Wesen von Macht, Schick­lichkeit, sozialer Ver­ant­wor­tung und vor allem Freiheit.

Als den franzö­sis­chen Beobachtern klar wurde, die meis­ten indi­ge­nen Amerikan­er betra­chteten Selb­st­bes­tim­mung und per­sön­liche Frei­heit als höch­ste Werte – und organ­isierten ihr eigenes Leben so, dass sie jede Möglichkeit der Unterord­nung unter einen frem­den Willen min­imierten, weshalb sie die franzö­sis­che Gesellschaft mehr oder min­der als eine Gesellschaft ver­drießlich­er Sklaven ansa­hen –, reagierten jene darauf völ­lig unterschiedlich.

Manche – etwa die Jesuit­en – lehn­ten das Frei­heit­sprinzip von vorn­here­in ab. Ver­ständlich, stellte es doch das hier­ar­chis­che Prinzip auch ger­ade in der katholis­chen Kirche radikal in Frage, jene mit­te­lal­ter­liche Gewis­sheit, die Urteile der Kirche und der von ihr unter­hal­te­nen Struk­turen seien notwendi­ger­weise denen aller anderen auf der Welt über­legen, da nur sie das wahre Chris­ten­tum verkörpere.

Eine effiziente Meth­ode, sich der indi­ge­nen Kri­tik zu entziehen und sie ihrer Brisanz zu berauben, war die Erschaf­fung des Mythos vom “edlen (oder bar­barischen) Wilden”, den man nicht ernst zu nehmen brauchte. Er stand ja in der Hier­ar­chie der men­schlichen Entwick­lung weit unten.

Graeber/Wengrow nehmen auch Jean-Jacques Rousseau in die Pflicht:
Rousseau wurde vieles vorge­wor­fen. In den meis­ten Fällen hat er sich nicht schuldig gemacht. Wenn es in seinem Ver­mächt­nis den­noch ein tox­is­ches Ele­ment gibt, dann ist es das Fol­gen­des: nicht das Bild vom »edlen Wilden«, son­dern das ver­bre­it­et zu haben, was man als »Mythos vom dum­men Wilden« beze­ich­nen kön­nte – selb­st wenn er diesen in seinem Zus­tand der Dummheit als geseg­net betrachtete. 

Die Impe­ri­al­is­ten des 19. Jahrhun­derts grif­f­en dieses Stereo­typ begeis­tert auf und braucht­en nur noch einige vorge­blich wis­senschaftliche Recht­fer­ti­gun­gen hinzuzufü­gen – von der dar­win­is­tis­chen Evo­lu­tion­slehre bis zur »wis­senschaftlichen« Rassenkunde –, um die Vorstel­lung jen­er unschuldigen Ein­fach­heit zu fes­ti­gen und so einen Vor­wand dafür zu schaf­fen, die verbleiben­den freien Völk­er der Erde (mit der fortschre­i­t­en­den Kolo­nialpoli­tik Europas zunehmend auch die ehe­mals freien Völk­er) in ein begrif­flich­es Korsett zu pressen, mit dem ihr Urteil nicht länger bedrohlich wirkte. 

Die Erken­nt­nisse des Autorenteams sind für unser tradiertes Geschichts­bild dur­chaus rev­o­lu­tionär. Wir wer­den deren Ein­sicht­en deshalb auch weit­er­hin ver­fol­gen, und dies wie immer

am kom­menden Fre­itag, den 17. Juni.

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