Als die Jesuiten — die intellektuelle “Speerspitze” der katholischen Gegenreformation — im 17. Jhdt. bei den Huronen und Irokesen ihre Missionierungsversuche aufnahmen, waren es u.a. drei Erfahrungen, die sie so in den indigenen Gesellschaften nicht erwartet hatten: das hohe intellektuelle Niveau ihrer indigenen Gegenüber, das Fehlen starrer Hierarchien und eine Art “Basiskommunismus”.
“Fast keiner von ihnen, der nicht in der Lage wäre, in Wissensangelegenheiten in passenden Begriffen äusserst geschickt zu sprechen und zu argumentieren. Die Räte, die fast täglich und zu fast allen Fragen in den Dörfern einberufen wurden, verbessern ihre Redegewandtheit” (Pater Lejeune, Superior der Jesuiten in Kanada).
“Ich kann wahrheitsgetreu sagen, dass sie den Europäern und den in Frankreich lebenden (Menschen) in keiner Weise unterlegen sind. Ich hätte nie geglaubt, dass die Natur ohne jede Unterweisung eine solch flinke und kraftvolle Eloquenz hervorbringt, wie ich sie bei vielen Huronen bewundert habe; oder eine bessere Scharfsicht in öffentlichen Angelegenheiten oder eine umsichtigere Handhabung von Dingen, mit denen sie vertraut sind. (Pater Lalemant). (Zitate aus Graeber/Wengrow. Anfänge)
Da die indigenen amerikanischen Stammesführer in den meisten Fällen über keine Mittel verfügten, ihre Stammesgenossen zu etwas zu zwingen, was diese ablehnten, war die Entwicklung grosser rhetorischer Fähigkeiten offensichtlich ein Muss.
Im 19. Jahrhundert gerieten die Irokesen erneut in den Fokus europäischen Interesses, als Friedrich Engels seine berühmt gewordene Abhandlung “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats” publizierte, in der er auf die matriarchalischen Aspekte in der irokesischen Gesellschaft einging. Seit einiger Zeit ist auch das Interesse an ihrer Konföderation neu erwacht, und ihr Anspruch, einen substantiellen Beitrag zur Entstehung der Verfassung der USA geleistet zu haben, wird endlich ernster genommen.
Es ist auch heute noch nicht einfach, sich von den jahrhundertealten Zerrbildern des “edlen”, resp. “blutrünstigen Wilden” zu lösen (Lederstrumpf!, Winnetou!), sie als Projektionen zu erkennen und sich ein realistisches Bild der indigenen Gemeinschaften zu machen. In diesem neuen Bild erscheinen Menschen, die durchaus nicht immer friedfertig waren — Irokesen waren für ihre grausame Kriegsführung berüchtigt -, aber es gilt genauso anzuerkennen, dass ihre gesellschaftliche Ordnung der europäischen des 17., 18. und 19. Jhdts. in vieler Hinsicht überlegen war.
Dazu gehört auch eine Art “Basiskommunismus”:
Frauen arbeiteten einzeln auf den ihnen gehörenden Feldern, speicherten und verteilten die Erzeugnisse aber kollektiv; Männer besassen ihre Werkzeuge und Waffen selbst, teilten typischerweise aber die Jagd- und Kriegsbeute. (…)
In vielen Gesellschaften — und offenbar auch in indigenen amerikanischen Gesellschaften der damaligen Zeit — wäre es ziemlich unvorstellbar gewesen, die Bitte um Nahrung zurückzuweisen. Für die Franzosen in Nordamerika galt dies im 17. Jahrhundert jedoch eindeutig nicht: Die Reichweite ihres Basiskommunismus war eher begrenzt und erfasste Nahrung und Unterkunft nicht — was die indigenen Amerikaner wieder empörte.
Wir habe es hier … mit der Konfrontation zweier grundverschiedener Vorstellungen von Gleichheit zu tun und ebenso mit einem Zusammenprall zweier unterschiedlicher Auffassungen von Individualismus. Die Europäer versuchten stets, ihren eigenen Vorteil zu erlangen. Die Gesellschaften der Northeast Woodlands hingegen gewährten einander die Grundlage für ein autonomes Leben — oder sorgten zumindest dafür, dass kein Mann und keine Frau anderen untergeordnet wurden. (…)
In ihren eigenen Gesellschaften gab es keinen direkten Weg, Reichtum in Macht über andere umzuwandeln (mit der Folge, dass sich die Besitzverhältnisse kaum auf die persönliche Freiheit auswirkten), daher konnte die Situation in Frankreich kaum unterschiedlicher sein: Macht über Besitztum liess sich direkt in Macht über andere menschliche Wesen umwandeln. (Graeber/Wengrow. Anfänge)
In einer Broschüre der Irokesen (Haudenosaunee), die 1977 im Zusammenhang mit ihrem Kampf an der UNO-Menschenrechtskommission in Genf entstand, bringt eine Illustration ihre Position auf den Punkt:
So konnte Douglas M. George-Kanentiio anlässlich der Ausstellung “Auf den Spuren der Irokesen” 2013 in Bonn nicht ohne Stolz festhalten, dass es mit der Demokratie in Europa vor dem 20. Jahrhundert nicht weit her war. Er verweist auf die Millionen Auswanderer, die aus dem Elend der Alten Welt flohen, und fährt fort:
„In unserem Irokesen-Territorium fanden sie die Freiheit, nach der sie sich so sehr gesehnt hatten. Die Irokesen waren eine der wenigen Nationen auf der Erde, die sich an eine Verfassung hielten, die die freie Rede ebenso unter ihren Schutz stellten wie die religiöse Toleranz, die Volksversammlung und das Recht der Bürger, nicht nur an der Regierung teilzuhaben, sondern auch eine von deren Politik abweichende Meinung zu vertreten.“
Dieses Zitat stammt aus dem lesenswerten Artikel “Edel, grausam und demokratisch?” des Deutschlandfunks. Wer sich noch etwas mehr in die faszinierende Geschichte dieser indigenen Konföderation vertiefen möchte, findet auf Wikipedia eine gute Einführung.
Und warum nicht einmal einem der grossen zeitgenössischen Chiefs, Oren Lyons, Seneca, Faithkeeper des Turtle Clans zuhören, was er uns zu sagen hat?
In den nächsten Folgen beschäftigen wir uns erneut mit den Erkenntnissen von Graeber/Wengrow, wie es zum “klassischen” Bild der Menschheitsentwicklung kam und warum es nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, — und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 10. Juni
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