1703 erschien das Buch “Supplément aux Voyages ou Dialogues avec le sauvage Adario” des französischen Adeligen Louis-Armand de Lom d’Arce, alias Baron de Lahontan. Lahontan diente in der französischen Armee in Kanada und kam dabei mit indigenen Politikern und Persönlichkeiten in Kontakt. Er lernte fliessend Algonkin und Wendat zu sprechen. Nach einem Zerwürfnis mit dem Gouverneur irrte er in Europa umher und freundete sich schliesslich mit Leibniz an, der ihn finanziell unterstützte.
Hinter dem “Wilden Adario” verbarg sich offensichtlich einer der brillantesten indigenen Politiker und Redner, ein Wendat (Hurone) namens Kondiaronk. Der Jesuit Pater Pierre de Charlevoix beschrieb Kondiaronk als derart “natürlich eloquent”, dass “ihn in seiner Geisteskraft vielleicht niemand jemals übertraf”. Als hervorragender Ratssprecher “war er auch privat nicht weniger brillant, und (Ratsmitglieder und Unterhändler) erfreuten sich häufig daran, ihn herauszufordern, um seine schlagfertigen Antworten zu hören, welche stets lebhaft, voller Witz und in aller Regel undwiederlegbar waren. Er war der einzige Mann in Kanada, der es mit dem (Gouverneur) Comte de Frontenac aufnehmen konnte, der ihn häufig an seine Tafel einlud, damit auch seine Offiziere in diesen Genuss kamen. (sämtliche Zitate aus: Graeber/Wengrow.Anfänge)
Die Kritik Kondiaronks an der europäischen Gesellschaft war so ätzend und detailliert, dass Kritiker bisher davon ausgingen, das Buch spiegle lediglich die aufklärerische Kritik Lahontans wieder, der sich — um sich vor politischer und kirchlicher Verfolgung zu schützen — hinter der imaginierten Gestalt eines Indigenen versteckte. So wurde etwa die Behauptung Kondiaronks, er habe die französische Gesellschaft in Frankreich studiert, als Beweis für die Unglaubwürdigkeit angeführt.
Zu Unrecht: Man weiss inzwischen, dass die Wendat-Konföderation 1691 einen Botschafter an den Hof Ludwigs XIV. entsandte und dass Kondiaronk damals das Amt des Ratssprechers innehatte, was nahelegt, er sei dieser Gesandte gewesen. Dazu kommt, dass sich seine Kritik an Christentum und europäischer Lebensweise beinahe vollständig mit der Kritik von anderen Sprechern irokesischer Sprachen aus jener Zeit deckt.
Kondiaronk wies die Missionierungs- und Bekehrungsversuche der Weissen harsch von sich und verwies auf die Zersplitterung der Christen untereinander. Es gebe zudem fünf- oder sechshundert Religionen, die sich alle voneinander unterscheiden und von denen euch zufolge allein die der Franzosen gut, heilig oder wahr ist.
Er vertrat die Ansicht, die in Europa übliche Bestrafung — wie die religiöse Doktrin ewiger Verdammnis — sei nicht wegen einer angeborenen Verderbtheit des Menschen notwendig, sondern entstehe aus einer Form der Gesellschaftsorganisation, die selbstsüchtiges und habgieriges Verhalten fördere. (…) Was für Menschen, was für Kreaturen müssen die Europäer sein, dass man sie zu guten Tagen zwingen muss und sie nur aus Angst vor Strafe vom Bösen ablassen?
Lahontan hielt auch fest, seine indigenen Gesprächspartner spotten über Kunst und Wissenschaft und lachen über die Rangordnung, die bei uns herrscht. Sie bezeichnen uns als Sklaven und nennen uns arme Seelen, deren Leben wertlos ist, weil wir uns selbst erniedrigen, indem wir uns einem Manne (dem König) unterwerfen, der alle Macht besitzt und durch kein Gesetz als seinen eigenen Willen gebunden ist. (…)
Sie finden es unverantwortlich, dass ein Mensch mehr als ein anderer besitzen sollte und dass die Reichen mehr Respekt verdienen sollten als die Armen. Kurz, sie sagen, die Bezeichnung Wilde, die wir ihnen geben, treffe besser auf uns zu, da in unseren Handlungen nichts erkennbar sei, dass auf Weisheit schliessen lasse.
Lahontans Bücher hatten eine enorme Wirkung auf die europäischen Befindlichkeiten. Kondiaronks Texte wurden ins Deutsche, Englische, Niederländische und Italienische übersetzt und blieben in zahlreichen Ausgaben über ein Jahrhundert lang im Druck. Jeder Intellektuelle des 18. Jahrhunderts, der etwas auf sich hielt, hatte sie höchstwahrscheinlich gelesen. Sie inspirierten auch eine wahre Flut von Nachahmern.
Noch bemerkenswerter ist, dass sich praktisch jede wichtige Persönlichkeit der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert an einer Kritik à la Lahontan ihrer eigenen Gesellschaft versuchte, nämlich aus Sicht eines imaginären Aussenseiters. Montesquieu wählte einen Perser; der Marquis d’Argens (1704–1771) einen Chinesen; Diderot einen Tahitianer; Chateaubriand einen Natchez; Voltaires L’Ingénu war halb Wendat und halb Franzose. Alle borgten ihre Themen und Argumente von Kondiaronk, übernahmen sie, entwickelten sie weiter und untermauerten sie mit Aussagen aus Reiseberichten anderer “Wildenkritiker”.
Wir bleiben auch in der nächsten Folge noch etwas bei Lahontan, Kondiaronk und der indigenen Kritik an der europäischen Gesellschaft, und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 3. Juni
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