In unseren Köpfen steckt in der Regel das fol­gende Geschichts­bild zur Entwick­lung der Menschheit:
Nach ein­er lan­gen Epoche als unge­bun­dene und freie Jäger und Samm­lerIn­nen ent­deck­ten die Men­schen im Nahen Osten den Acker­bau. Diese Acker­bau­rev­o­lu­tion hat­te drama­tis­che Fol­gen: Bodenbe­sitz — und damit die Entste­hung der Gren­ze — wurde wichtig, und er erlaubte Schritt um Schritt eine Diver­si­fizierung der Tätigkeit­en. In den Gesellschaften ent­standen Reich­tum und Armut, — und damit ein Macht­ge­fälle. Macht­gi­er und Besitztrieb führte zu den ersten kriegerischen Auseinan­der­set­zun­gen. Das Sklaven­we­sen ent­stand, usw. usw.

Dass dieses Bild rev­i­diert wer­den muss, ist spätestens seit den Aus­grabun­gen von Göbek­li Tepe im Südosten der Türkei klar geworden.

Doch seit der Veröf­fentlichung des Best­sellers von David Grae­ber und David Wen­grow “Anfänge. Eine neue Geschichte der Men­schheit” ist auch klar, dass wir tra­di­tionelle Vorstel­lun­gen über die Wurzeln demokratis­ch­er Vorstel­lun­gen loslassen müssen.

In der Schule lern­ten wir, dass sich erste demokratis­che Struk­turen in Athen entwick­el­ten (allerd­ings unter Auss­chluss der Frauen, Sklaven und Nicht-Bürg­ern). Die entschei­den­den Impulse und Fragestel­lun­gen zur sozialen Gle­ich­stel­lung seien aber schliesslich in Europa von den Philosophen der Aufk­lärung gekom­men — allen voran von Jean Jacques Rousseau.
Er hin­ter­liess uns eine Geschichte über die Ursprünge sozialer Ungle­ich­heit, die bis zum heuti­gen Tag in end­losen Vari­a­tio­nen immer wieder erzählt wird: Es ist die Geschichte von der ursprünglichen Unschuld der Men­schheit und darüber, wie sie unwissentlich in ein Aben­teuer tech­nol­o­gis­ch­er Ent­deck­un­gen auf­brach. Diese Reise führte uns schliesslich von einem Zus­tand unberührter Ein­fach­heit in eine “Kom­plex­ität” und Ver­sklavung. (alle Auszüge aus Graeber/Wengrow)

Bekan­ntlich schrieb Rousseau den “Dis­cours sur l’iné­gal­ité” (“Abhand­lung von dem Ursprunge der Ungle­ich­heit unter den Men­schen, und worauf sie sich gründe”) im Jahre 1754 als Essay für ein Preisauss­chreiben der Académie des Sci­ences, Arts et Belles-Let­tres de Dijon auf die Frage:
Was ist der Ursprung der Ungle­ich­heit unter den Men­schen, und wird er durch das Naturge­setz legitimiert?

Grae­ber und Wen­grow haben nun als erste genau diese Frage hin­ter­fragt:
Wie kommt es, dass eine Gruppe Gelehrter in Frankre­ich des Ancien Régime, die einen nationalen Essay­wet­tbe­werb ver­anstal­tete, dies für eine passende The­men­stel­lung hielt?

Nun ja, kön­nte man sagen, dazu haben wir schliesslich die klu­gen Köpfe in den Akademien! Doch die bei­den Autoren weisen darauf hin, dass im Ancien Régime in Frankre­ich beina­he jed­er Aspekt men­schlich­er Inter­ak­tion — von Essen und Trinken bis zur Arbeit und Gesel­ligkeit — von raf­finierten Über- und Unterord­nun­gen sowie Rit­ualen gesellschaftlich­er Ehrerbi­etung geprägt war, wie wir es uns heute fast nicht mehr vorstellen können.

Woher hat­ten diese klu­gen Köpfe also den Impuls, diese feste Ord­nung plöt­zlich zu hinterfragen?

Und hier wird es echt span­nend! Erst anfangs des 17. Jahrhun­derts entwick­el­ten sich nach den Ent­deck­un­gen in der Neuen Welt unter dem Ein­fluss der Natur­recht­slehre die Begriffe “Gle­ich­heit” und “Ungle­ich­heit”. Berühmt gewor­den ist die Kon­tro­verse von Val­ladol­id 1550/51 über das Recht auf Ver­sklavung und Aus­rot­tung der Indi­ge­nen (hier ein Auszug aus ein­er ein­drück­lichen Ver­fil­mung aus dem Jahre 1991).

Die rechtliche und philosophis­che Frage lautete for­t­an: Welche Rechte haben men­schliche Wesen allein dadurch, dass sie Men­schen sind? Welche Rechte kön­nte man als “naturgegeben” beze­ich­nen, selb­st wenn ihre Inhab­er in einem Naturzu­s­tand lebten, unberührt von den Lehren geschrieben­er Philoso­phie und offen­barter Reli­gion und ohne kod­i­fizierte Gesetze?

Ein entschei­den­der Anstoss zu ein­er ver­tieften Auseinan­der­set­zung mit solchen Fra­gen ergab sich nun durch den Kon­takt europäis­ch­er Mis­sion­are, Händler und Siedler mit den indi­ge­nen Gemein­schaften im Osten Nor­damerikas. Es kam zu einem regen Aus­tausch: Europäer lern­ten die indi­ge­nen Sprachen, die Indi­ge­nen ihrer­seits lern­ten Spanisch, Englisch, Hol­ländisch und Franzö­sisch. Ins­beson­dere Mis­sion­are führten als Teil ihrer beru­flichen Pflicht­en lange philosophis­che Debat­ten; viele andere auf bei­den Seit­en disku­tierten miteinan­der entwed­er aus pur­er Neugi­er oder weil es unmit­tel­bare prak­tis­che Gründe dafür gab, den Stand­punkt des anderen zu verstehen.

Die daraus ent­standene Reiselit­er­atur und die Mis­sion­ars­berichte wur­den von der gebilde­ten Schicht in Europa regel­recht ver­schlun­gen, weil sie plöt­zlich ein Fen­ster auf völ­lig neue und uner­hörte Gedanken öffneten. Und das hat­te Folgen:
Viele ein­flussre­iche Denker der europäis­chen Aufk­lärung erk­lärten in der Tat, einige ihrer Gedanken zu diesen The­men stammten unmit­tel­bar aus indi­gen-amerikanis­chen Quellen, — und jet­zt kom­men Grae­ber und Wingrow zu ihrer sarkastis­chen Kri­tik -,  wen­ngle­ich, wie vorherzuse­hen, heutige Kul­tur­wis­senschaftler darauf behar­ren, dies könne nicht der Fall sein. Von indi­ge­nen Völk­ern wird angenom­men, sie hät­ten in einem vol­lkom­men anderen Uni­ver­sum gelebt, sog­ar in ein­er ganz anderen Wirk­lichkeit. Alles, was Europäer über sie sagten, waren dem­nach schlicht ein Schat­ten­spiel, eine Pro­jek­tion, kurz Phan­tasievorstel­lun­gen des “edlen Wilden”, die sich aus der eige­nen europäis­chen Tra­di­tion speisten. 

Die Autoren weisen nun nach, dass es damals tat­säch­lich zu einem inten­siv­en Dia­log kam:
Wir erken­nen nicht nur, dass indi­gene Amerikan­er — mit selt­samen Frem­den kon­fron­tiert — schrit­tweise eine eigene, über­raschend stim­mige Kri­tik an europäis­chen Insti­tu­tio­nen ent­fal­teten, son­dern auch, dass man in Europa diese Insti­tu­tio­nenkri­tik schliesslich dur­chaus ernst nahm.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am Fre­itag, den 27. Mai.

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