Bevor wir uns wei­ter mit der Fra­ge beschäf­ti­gen, inwie­fern die Demo­kra­tie in der Schweiz heu­te auf einer siche­ren und gesun­den Grund­la­ge steht, hier wie­der ein­mal eine Über­le­gung zum Stich­wort “Reichs­idee”.

Ende Febru­ar stand der Wes­ten ziem­lich fas­sungs­los vor der Tat­sa­che, dass Putin unter faden­schei­ni­gen Begrün­dun­gen tat­säch­lich in die Ukrai­ne ein­mar­schier­te. Seit­her rät­seln Poli­ti­ker, Psy­cho­lo­gen, His­to­ri­ker und Mili­tär­stra­te­gen über die eigent­li­che Moti­va­ti­on, die Putin zu die­sem ver­häng­nis­vol­len Schritt führte.
War es eine ver­fehl­te Poli­tik des Wes­tens, der es ver­pass­te, eine wirk­lich ver­trau­ens­vol­le Bezie­hung zu Russ­land auf­zu­bau­en und Putin wegen der Nato-Ost­erwei­te­rung poli­tisch in eine sol­che poli­ti­sche Zwangs­la­ge brach­te, dass er sich nur mit einem mili­tä­ri­schen Befrei­ungs­schlag her­aus manö­vrie­ren konnte?
● War es im Gegen­teil eine zu gros­se Blau­äu­gig­keit west­li­cher Demo­kra­tien, die das seit vie­len Jah­ren zuneh­mend auto­kra­ti­sche und dik­ta­to­ri­sche Ver­hal­ten des Herr­schers im Kreml nicht zur Kennt­nis neh­men woll­ten, um ihre wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen nicht in Fra­ge stel­len zu müssen?
● War es der ver­letz­te Stolz einer Nati­on, die sich im Kreis der aktu­el­len Impe­ri­en wie die USA oder Chi­na plötz­lich in eine zweit­ran­gi­ge Rol­le ver­setzt sah?
● Waren es die faschis­to­iden Fan­ta­sien rus­si­scher Phi­lo­so­phen wie Ivan Ilyin oder Alek­san­dr Dugin, die Putins Den­ken in den letz­ten Jah­ren offen­sicht­lich immer stär­ker geprägt haben?
● War es usw. usw. usw.?

Das alles mag mehr oder weni­ger zutref­fen. Mich beschäf­tigt ein ande­res Phä­no­men, das ange­sichts des aktu­el­len Kon­flikts in Russ­land wie­der deut­lich wird: die Iden­ti­fi­ka­ti­on der Men­schen mit der — selbst­ver­ständ­lich hoch­her­zi­gen — zivi­li­sa­to­ri­schen Mis­si­on der eige­nen Nati­on. Wenn man den neu­es­ten Unter­su­chun­gen trau­en darf, liegt die Unter­stüt­zung von Putin in der Bevöl­ke­rung zur­zeit bei rekord­ho­hen 83 %. Natür­lich kann man ent­ge­gen­hal­ten, dass dies ein­fach das Resul­tat einer tota­li­tä­ren media­len Gehirn­wä­sche ist. Aber das ist nicht die gan­ze Wahr­heit. Dahin­ter steckt auch die Nei­gung vie­ler Men­schen, sich mit dem Kampf der eige­nen heroi­schen Nati­on zu iden­ti­fi­zie­ren und sich einem Füh­rer, der weiss, was zu tun ist, anzuvertrauen.

Das Gegen­stück dazu haben wir 2016 in den USA erlebt, als Donald Trump mit dem Slo­gan “Ame­ri­ca first” an die Macht gelang­te, mass­geb­lich unter­stützt von weis­sen natio­na­lis­tisch gesinn­ten Evan­ge­li­ka­len, die in Trump den Mes­si­as sahen, der “God’s own Coun­try” wie­der zur alten Grös­se — was immer das heis­sen mag — zurück­füh­ren wür­de. Oder wenn wir etwas wei­ter zurück­ge­hen: Geor­ge W. Bush, der sich von Gott beauf­tragt fühl­te, “die Ach­se des Bösen” auf die­ser Welt zu zer­stö­ren, — und in sei­ner selbst­ge­rech­ten Hybris die dunk­len Sei­ten sei­ner eige­nen Nati­on ein­fach ausblendete.

Die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der eige­nen Nati­on ist auch in den bei­den gröss­ten Kata­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts offen­sicht­lich. Als am Vor­abend des ers­ten Welt­kriegs klar wur­de, dass der Waf­fen­gang unaus­weich­lich schien, platz­te die Illu­si­on, dass die inter­na­tio­na­le Arbei­ter­schaft den Krieg mit einem gemein­sa­men Gene­ral­streik ver­hin­dern kön­ne, wie eine Sei­fen­bla­se. Die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der eige­nen Nati­on war stär­ker. Plötz­lich war der Genos­se auf der ande­ren Sei­te der Gren­ze zum Feind geworden.
Wie es ein paar Jah­re spä­ter Mus­so­li­ni und Adolf Hit­ler gelang, ihre Bevöl­ke­rung in einen natio­na­len Macht­rausch hin­ein­zu­zie­hen, muss hier wohl kaum mehr näher erör­tert werden.

Solan­ge die­se Iden­ti­fi­ka­ti­on sich auf sport­li­che (“Wir haben 50 Medail­len gewon­nen”) oder kul­tu­rel­le Ereig­nis­se bezieht — “Wir sind Papst” bleibt unver­ges­sen 🙂 — bewegt sie sich auf eher harm­lo­sem Ter­rain. Aber sobald sie sich in poli­ti­sche Gefil­de ver­schiebt, wird es rasch gefähr­lich. Ein ein­drück­li­ches Anschau­ungs­ma­te­ri­al lie­fert uns zur­zeit der Wahl­kampf um die Prä­si­dent­schaft in Frank­reich, wo die Nost­al­gi­ker des “wah­ren Frank­reich” einen bis anhin uner­reich­ten Zulauf von über 30% ver­zeich­nen dürfen.

Was haben all die­se  Über­le­gun­gen mit der “Reichs­idee” zu tun?

Könn­te es sein, dass wir — die wir uns ger­ne auf unse­re christ­li­che abend­län­di­sche Zivi­li­sa­ti­on beru­fen — mit der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der eige­nen Nati­on unbe­wusst eine Art moder­nen Göt­zen­dienst leis­ten? Gilt es sich viel­leicht wie­der dar­an zu erin­nern, dass unse­re eigent­li­che Hei­mat nicht in einer äus­se­ren Nati­on zu fin­den ist, son­dern — wie es ein jüdi­scher Wan­der­pre­di­ger vor 2000 Jah­ren ver­kün­de­te — allein in unse­rem Innern? (sie­he Reichs­idee 12, 13, 14, 15, 16 , 17, 18)

Der Arzt, Phi­lo­soph, Päd­ago­ge und Poli­ti­ker Ignaz Trox­ler, den der His­to­ri­ker Oli­vi­er Meuw­ly in sei­ner Trox­ler-Bio­gra­phie als “Inven­teur de la Suis­se moder­ne” und “Un Père de la Patrie” bezeich­net, schloss sei­ne phi­lo­so­phi­schen Vor­le­sun­gen an der Uni­ver­si­tät Bern 1835 mit fol­gen­den Worten:
Ich glau­be aber auch nicht, dass eine radi­ka­le­re, eine allen Natio­nen und  Genera­tio­nen ange­mes­se­ne­re, durch­grei­fen­de­re, heil­brin­gen­de­re Refor­ma­ti­on und Revo­lu­ti­on zu leh­ren und zu stif­ten sei, als die im Evan­ge­li­um geof­fen­bart (…) ist. Ich glau­be fer­ner, (…) dass das Evan­ge­li­um in dem Mas­se, wie es Wahr­heit und Ernst im Leben wird und sich die Welt unter­wirft, wie der Geist sei­ner Leh­re Ethik, Moral, Jus und Poli­tik der Indi­vi­du­en und Natio­nen durch­dringt, auch die Eman­zi­pa­ti­on der Mensch­heit voll­enden, und Got­tes Reich, die wah­re Repu­blik, auf Erden ver­wirk­li­chen werde.

Trox­ler war zwar katho­lisch, aber kein Kir­chen­christ. Unter “Evan­ge­li­um” ver­stand er die “die fro­he Bot­schaft” des gröss­ten Revo­lu­tio­närs, der je auf die­ser Erde gewan­delt ist: Es ist eine Illu­si­on zu glau­ben, die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit irgend­wel­chen äus­se­ren Rei­chen, z.B. unse­re Nati­on, brin­ge Sicher­heit. Das ein­zi­ge auf Fel­sen gebau­te Haus, das “Reich Got­tes”, ist in uns. Die­se Bot­schaft ist heu­te aktu­el­ler und nöti­ger denn je.

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Ernesto Oeschger † (1931-2022)

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