Wetterumzogen brausen die Wogen;
Aber die Sterne, die sind dir gewogen!
Steure, du Schweizer im Völkerorkan
Ruhig, wie Tell ihn gesteuert, den Kahn!
So dichtete der deutsche Freiheitskämpfer Georg Herwegh, der in der Eidgenossenschaft Asyl fand und dessen Denkmal in Liestal gleich unterhalb des Bahnhofs zu bewundern ist.
Als vor hundertfünfzig Jahren der Schweizerische Bundesstaat gegründet wurde, entstand im Herzen Europas eine politisch-kulturelle Einheit, die nach freiheitlichen Grundsätzen verfasst war und ihrer föderalen Struktur dem Pluralismus des Landes Rechnung trug. Damals ging die Schweiz der europäischen Entwicklung voraus, was durchaus Anlass zum Argwohn unter den Fürsten der alten Regimes gab. Vor allem bildete sich eine politische Kultur, welche nach innen demokratische Partizipation und wechselseitige Anerkennung, nach aussen aber Selbstbescheidung und Neutralität pflegte.
So im Vorwort des Buches “Die Schweiz — Für Europa?”, herausgegeben von Martin Meyer und Georg Kohler.
Was damals zutraf, gilt es noch heute?
Die kleine, harmlose Schweiz, dieser Inbegriff von direkter Demokratie, Gediegenheit und Solidität, ein Schurkenstaat?
So im Klappentext zum Buch “Schweiz — Schurkenstaat?” von Viktor Parma und Werner Vontobel, in dem die beiden Autoren die Schweizer Finanz- und Fiskalpolitik untersuchten. Das Buch erschien 2009, kurz vor dem Ende des Bankgeheimnisses, von dem Bundesrat Merz noch ein Jahr vorher verkündet hatte, das Ausland werde sich daran die Zähne ausbeissen.
Gut — das ist inzwischen Geschichte. Oder vielleicht doch nicht so ganz?
2011 ist Wahljahr in der Schweiz — und das Land steckt in der Krise. Die Ursachen liegen tief und sind weit über den Machtkampf der Parteien hinaus eine Bedrohung für das vielgerühmte “Erfolgsmodell Schweiz”. Die direkte Demokratie wird zur defekten Demokratie. Die Teilhabe des Bürgers an der Politik steht auf dem Spiel. Die Balance von Wirtschaft und Staat ist in Gefahr.
So der Einführungstext zum 2011 erschienenen Buch “Die käufliche Schweiz. Für die Rückeroberung der Demokratie durch ihre Bürger” von Oswald Sigg und Viktor Parma.
Demokratie ist nur wirklich, wenn sie stetig erneuert und erweitert wird. Doch heute ist das Gegenteil der Fall: Stagnation, Krise der Demokratie, Entwertung demokratischer Prozesse.
meint Stefan Howald in seinem Buch “Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen” aus dem Jahre 2014.
1989 besassen die 300 Reichsten in der Schweiz 82 Milliarden, Ende 2014 bereits 589 Milliarden Franken. Hat ihre Macht entsprechend zugenommen?
ist die Leitfrage in der von Ueli Mäder 2015 herausgegebenen Untersuchung “macht+ch. Geld und Macht in der Schweiz”. (2020 besassen schon allein die 20 reichsten Schweizer über 300 Milliarden, und dieser Betrag dürfte sich nach der Covidkrise noch massiv nach oben bewegt haben)
All diese Publikationen scheinen hinter den Wunsch Herweghs, der Schweizer (und seit 1971 auch die Schweizerin) habe heute die Möglichkeit und die Fähigkeit, den “Kahn Eidgenossenschaft” ruhig, selbständig und selbstbestimmt wie Tell durch “den Völkerorkan” zu steuern, mehr als nur ein Fragezeichen zu setzen.
Hat Andreas Gross also recht, wenn er seinem 2016 publizierten Buch den Titel “Die unvollendete Direkte Demokratie” gab?
Und wie steht es mit der Blackbox der Parteienfinanzierung?
Die Frage, die wir uns im Anschluss an die Ausführungen Reginald Grünenbergs gestellt haben:
Können wir davon ausgehen, dass in der Schweiz der demokratische Dialog störungs- und hindernisfrei funktioniert und so, um mit Troxler zu sprechen, die “Blendwerke des Irrtums” keine Chance haben?
scheint also durchaus sinnvoll zu sein.
Wir werden deshalb in den nächsten Folgen ein paar Blicke in die oben vorgestellten Bücher werfen, und beginnen damit wie immer
am kommenden Freitag, den 4. März
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher