Uns allen sind Begriffe wie “Monarchie, Oligarchie, Aristokratie, Diktatur, Plutokratie” durchaus vertraut, aber schon mal von “Synkratie, Pornokratie, Thalassokratie, Nekrokratie” gehört!? Wer sich etwas weiterbilden will, findet die Antwort hier 🙂 .
Der birsfaelder.li-Schreiberling und die geneigten birsfaelder.li-Leserinnen und Leser schätzen sich sicher glücklich, in einer Demokratie zu leben: Demokratie bezeichnete ursprünglich im antiken Griechenland die direkte Volksherrschaft, heute beschreibt der Begriff alle Herrschaftsformen, deren Grundlagen aus dem Volk abgeleitet werden. (Wikipedia)
Was ist also ein Demokrat oder eine Demokratin? — Natürlich ein Subjekt, das in einer Demokratie lebt oder für eine Demokratie kämpft!
Aber ist das wirklich eine stichhaltige Definition, und nicht eher “eine Katze, die sich selber in den Schwanz beisst”?
Genau diese Frage hat sich der Politologe, Philosoph, Unternehmer und Erfinder Reginald Grünenberg in seinem Buch “Politische Subjektivität. Der lange Weg vom Untertan zum Bürger. Begründung des demokratischen Individualismus” gestellt:
Es ist eigentlich eine ganz einfache Frage, auf die man eine kurze und bündige Antwort erwarten sollte. Doch jeder Anlauf dazu ist ein Fehlstart. Probieren Sie es aus! Erklären Sie in wenigen Sätzen, was ein Demokrat ist. Nicht gültig sind die Antworten „Ein Mensch, der in einer Demokratie lebt“ oder „Die Art von Mensch, aus der Demokratien bestehen“, denn manche Demokratien verkraften eine Menge Nicht-Demokraten und es gibt Demokraten in Ländern, die alles andere als Demokratien sind. Außerdem sind das nur Versuche, etwas Unbekanntes durch etwas Bekanntes zu erklären, nicht das Unbekannte aus sich selbst heraus. Eine richtige Definition müsste auch Kriterien an die Hand geben, mit denen man den Demokraten vom Nicht-Demokraten unterscheiden könnte.
Na, ist doch nicht so einfach, was? OK, ziehen Sie den Telefonjoker – eine Hilfestellung in beliebten TV-Quizsendungen – und rufen Sie jemanden an, von dem Sie denken, er oder sie könnte es wissen. Geht auch nicht? Stimmt, der Joker will den Demokraten auch mit der Demokratie erklären, aber das war leider nicht die Frage. Noch ein Versuch: Gehen Sie ins Internet und geben Sie den Suchbegriff „Demokrat“ oder gleich „Was ist ein Demokrat?“ ein. Aha, das sind also Parteimitglieder bestimmter Parteien, die sich „Demokraten“ nennen. Nein, das ist es wohl auch nicht. Gut, jetzt noch eine letzte Chance, denn vielleicht wissen ja nur wir Deutschen nicht, was ein Demokrat ist. Also probieren Sie es auf Englisch, „What is a democrat?“, denn die englischsprachige Welt ist schließlich viel größer und war uns in Sachen Demokratie auch immer schon voraus. Was? Wieder nichts? Erstaunlich, nicht wahr.
Es ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil wir als „der Westen“ die Demokratie nicht nur bei uns so hoch schätzen, sondern sie auch noch weltweit exportieren und andere Völker damit beglücken wollen. Es ist zwar logisch nachvollziehbar und entspricht auch der Erfahrung, dass eine Demokratie für ihr Überleben eine gewisse – allerdings völlig unbestimmte – Anzahl an Demokraten braucht, aber wir wissen gar nicht, was das ist, ein Demokrat. Dennoch wollen wir den Irak, Afghanistan und am besten auch gleich China „demokratisieren“, nicht zu vergessen die arabischen Nationen, die sich gerade so spektakulär und unerwartet von ihren Despoten befreit haben. Wir fühlen zwar, wie es ist, ein Demokrat zu sein, und haben eine Ahnung davon, was es bedeutet, aber uns fehlen die Worte dafür.
Da ist guter Rat teuer. Aber weil Grünenberg ein kluger Kopf ist, hat er sich natürlich Gedanken dazu gemacht, — und die sind echt spannend! Er versucht als erstes, die Oberbegriffe für “Demokrat” zu definieren und kommt auf die Reihe “Demokrat — politisches Subjekt — Individuum”. Natürlich beginnt da gleich wieder die Frage, wie denn “Individuum” und “politisches Subjekt” ihrerseits zu definieren seien.
Hier fehlt der Platz, seine Ausführungen zusammenzufassen, aber ein wichtiger Aspekt sei doch erwähnt. Grünenberg spricht vom “Goldenen Zeitalter des Individuums” und verortet es im 18. /19. Jahrhundert der bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich:
Das geschah einerseits durch die Taten empörter Bürger, die für mehr Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe an der politischen Macht kämpften, andererseits durch Traktate, in denen die klügsten Köpfe dieser Zeit zu zeigen versuchten, was diese geschichtsmächtige Individualität im Einzelnen bedeutet. So wurden verschiedene Schemata des Individuums entwickelt, allen voran das Individuum als komplexes „Subjekt“ mit erstaunlichen Innenhorizonten in der Philosophie (Descartes, Leibniz, Kant), dann das Individuum als Gegenstand der Erziehung in der Pädagogik (Locke, Rousseau, Pestalozzi), als Akteur auf den Märkten in der Ökonomie (Smith), als rechtsfähige Instanz in den Herrschafts- und Sozialverträgen (Locke, Hume, Rousseau), und schließlich als aus eigenen Überzeugungen heraus kämpfender Soldat im Krieg (Clausewitz).
Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts begann die Rolle und Wichtigkeit des Individuums zu verblassen. Stellvertretend sei auf die Philosophie von Hegel hingewiesen, in welcher der dialektisch fortschreitende Weltgeist, der zu immer grösserer Freiheit führe, im Zentrum steht, gefolgt von Karl Marx, der Hegels Philosophie “vom Kopf auf die Füsse stellte” und diesen “Weltgeist” im Klassenkampf zwischen Proletariern und Kapitalisten am Wirken sah.
Das Individuum sei gemäss Grünenberg so langsam aus der philosophischen Betrachtung herausgefallen:
Die Spätfolgen merken wir heute noch, und zwar insofern, als in ausnahmslos allen Kultur‑, Sozial- und Geisteswissenschaften ein metatheoretisches Dogma herrscht, welches besagt, dass man nicht mehr vom Modell des denkenden Subjekts und schon gar nicht vom konkreten Individuum als Träger von Handlungen ausgehen kann. Es gibt heutzutage keine ernstzunehmende Handlungstheorie mehr, die das soziale, politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche oder künstlerische Handeln noch auf Subjekte oder Individuen zurückrechnet und sich mit deren Innenhorizonten beschäftigt. Die Theoriebildung basiert stattdessen ausschließlich auf „Systemen“ und „Strukturen“ (Geschichte, Ökonomie, Psychologie, Politologie, Soziologie), „Kontexten“ und „Diskursen“ (Literatur, Kunst, Philosophie).
Was das konkret bedeuten kann, zeigt Grünenberg am Beispiel des Buches “Hitlers willige Vollstrecker” von Daniel Goldhagen, das bei seinem Erscheinen in Deutschland auf massive Empörung und Kritik stiess und von der Fachwelt der Historiker zerrissen wurde. Tatsächlich dürfte die These des spezifischen deutschen Antisemitismus nicht stichhaltig sein, aber Grünenberg weist zu Recht darauf hin, dass Goldhagen seinen Finger auf die ganz konkrete Verantwortlichkeit des Individuums legte und gerade damit aneckte:
Wenn man diesen metatheoretischen Antiindividualismus einmal erkannt hat, dann versteht man auch die Empörung der Fachwelt, als der Historiker Daniel Goldhagen 1996 sein Buch Hitlers willige Vollstrecker veröffentlichte. Darin weigerte der Autor sich, weiterhin „Struktur“- oder „Sozialgeschichte“ zu schreiben, denn Strukturen und das Soziale denunzieren und ermorden keine Menschen. Stattdessen ging er in der angloamerikanischen Tradition der „dichten Beschreibung“ (Clifford Gertz) auf die Motive einzelner Täter ein.
Der Definition, was nun ein “Demokrat” und eine “Demokratin” sei, — denn Grünenberg hat tatsächlich eine gewagt — wenden wir uns in der nächsten Folge
am Freitag, den 18. Februar zu.
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