Gehen wir im Buch “Healing the Soul of America” von Marianne Williamson gleich zu jenem Kapitel, in dem die Autorin eine schonungslose Analyse präsentiert, warum die Demokratie in den USA trotz Verfassung und Amendments zutiefst gestört und zerrüttet ist. Der Titel des Kapitels lautet “The Eternals of Finance”, und ich erlaube mir, hier daraus etwas ausführlicher zu zitieren. Es bleibt der geneigten Leserin und dem geneigten Leser überlassen abzuwägen, welche Aspekte ihrer leidenschaftlichen Anklage auch für Europa inklusive Schweiz eine gewisse Gültigkeit beanspruchen kann:
Wir alle haben den Ausdruck “der Geist der Demokratie” schon einmal gehört. Es ist ein Klischee, aber es ist auch etwas sehr Reales. Es ist eine Kraft des Bewusstseins, eine Liebe zur Freiheit und eine Umarmung des Gedankens, dass in jedem von uns eine strahlende Güte steckt, die es verdient, zum Vorschein zu kommen, und die, wenn sie zum Vorschein kommt, einen wahren Garten in der Welt schafft.
Und gibt es einen Geist, der “undemokratisch” ist? Ja. Es ist die Antwort der Angst auf die Vorstellung von der Gleichheit der Seelen selbst. Die Liebe bringt alles hervor, was sich von ihr unterscheidet, und die Demokratie hat immer das hervorgerufen, was sie zerstören wollte. Deshalb müssen diejenigen, die die Demokratie lieben, die von ihren Gaben profitieren, immer wachsam sein, um sie zu verteidigen. Antidemokratische Bestrebungen nehmen viele Formen an, aber sie sind immer durch Ungerechtigkeit gekennzeichnet, die von einer Gruppe von Menschen gegenüber einer anderen begangen wird.
Im Ancien Régime in Europa war die Aristokratie ganz offen, wer und was sie war. Heute gibt sich eine der virulentesten antidemokratischen, aristokratischen Kräfte nicht als solche zu erkennen und sieht sich selber auch nicht unbedingt so. Es handelt sich um eine wirtschaftliche Weltanschauung, die nun die Völker der Welt zu beherrschen droht, sogar die sogenannten freien Regierungen der Welt.
Im Jahr 2017 gehörten zu 100 größten Volkswirtschaften der Welt einunddreißig Nationen und neunundsechzig Konzerne. Diese Konzerne sind heute buchstäblich mächtiger als die Regierungen. Hinter den Kulissen spielt sich ein hässliches Drama ab, gegen das auch die Vereinigten Staaten nicht immun sind: freie, souveräne Nationen erliegen der Macht eines unternehmerischen Kolonialisierungsprozesses. Die mächtigsten Wirtschaftsinstitutionen der Welt treiben Verträge voran, die es Nationen und Gemeinschaften verbieten, Gesetze zu erlassen, die den Einfluss des globalen Kapitalismus im jeweiligen Land schwächen würden. Eine Nation nach der anderen geht unter, angelockt von der Illusion wirtschaftlicher Sicherheit, die den ahnungslosen Bürgern verkauft wird. Wir geben einer unternehmerischen Vorherrschaft nach, die die Welt kulturell homogenisieren, die große Mehrheit ihrer Bürger unterdrücken und unsere natürlichen Ressourcen zügellos ausbeuten würde.
Die internationalen Finanzinstitutionen haben ein Mandat, das durch die Macht der stärksten Nationen der Welt, insbesondere der Vereinigten Staaten, gestützt wird: alle Hindernisse für den freien internationalen Waren- und Kapitalverkehr zu beseitigen und das Recht auf einen solchen Verkehr auch gegen den Willen demokratischer Regierungen und der Menschen, denen sie rechenschaftspflichtig sind, zu gewährleisten. Dies stellt eine Verhöhnung der Demokratie dar. Können Sie sich einen Vertrag vorstellen, der einer Nation vorschreibt, dass sie dieses oder jenes Gesetz nicht verabschieden darf, wenn es dadurch für ein großes Unternehmen schwieriger wird, in diesem Land Geld zu verdienen? Welchen Unterschied macht es, wer unsere Staatsoberhäupter sind oder wie sehr sie das Wohl ihrer Bürger über das Wohl transnationaler Unternehmen stellen, wenn diese Unternehmen mächtiger geworden sind als Regierungen?
(…)
Geldinteressen kontrollieren den politischen Prozess, indem sie routinemäßig so viele Millionen Dollar in so viele politische Kampagnen stecken, dass sie den Prozess völlig korrumpiert haben. Dies ist kein Geheimnis mehr. Die Gesundheit und das Wohlergehen von Unternehmensstrukturen werden über die Gesundheit und das Wohlergehen von Einzelpersonen und Gemeinschaften gestellt, ganz gleich, wie viele Menschen durch diesen Prozess in der Armut gefangen sind; ganz gleich, wie sehr die bevorzugte Unternehmenspolitik die ohnehin schon alarmierende Kluft zwischen Arm und Reich noch vergrößert; ganz gleich, wie viel menschliches Leid unter den arbeitenden Menschen angerichtet wird, deren Lebensunterhalt durch Unternehmensumstrukturierungen und ‑verkleinerungen bedroht ist; egal, wie viele weitere bekannte Karzinogene in unseren Boden, unsere Luft und unsere Nahrung geschüttet werden; und egal, wie viele junge Menschen in baufällige Schulen geschickt werden, die sich nicht einmal mehr Schulbücher leisten können, in denen der Unterricht per definitionem mehr zur Kontrolle der Massen als zur Bildung wird, in Gemeinden, in denen die realen Chancen junger Menschen, es in der Welt zu schaffen, jeden Tag kleiner und kleiner werden.
Im heutigen Amerika kann der Kapitalismus der freien Marktwirtschaft nicht mit Fug und Recht behaupten, dass dort, wo mehr Geld für ein Unternehmen erwirtschaftet wird, das Leben per Definition für alle besser wird. Wenn die Kosten des Wirtschaftens zu einer ökologischen Notlage führen, die das Wohlergehen der Menschen und des Planeten bedroht, wenn die amerikanischen Arbeitnehmer durch die Auflösung des Sozialvertrags zwischen Management und Arbeitnehmern weiterhin sozialen und wirtschaftlichen Boden verlieren, wenn die Vergütungspakete für Führungskräfte weiterhin den Löwenanteil der Gewinne dieses Landes auffressen, wenn das Geld weiterhin Washington regiert und die amerikanische Regierung zu wenig mehr als einer Handlangerin der Geldgeber der Unternehmen macht, dann wird die Demokratie geopfert.
Unsere fast schon tragische Ehrerbietung gegenüber den Bedürfnissen der freien kapitalistischen Marktwirtschaft widerspricht sogar der Philosophie von Adam Smith, der verkündete, dass der freie Markt nicht außerhalb eines ethischen Kontextes existieren kann. Ein Teil dessen, was den Kapitalismus zu einem vernünftigen Wirtschaftssystem macht, ist, dass er den Menschen Freiheit gewährt. Doch mit der Freiheit kommt die Verantwortung. Der Kapitalismus selbst ist moralisch neutral, aber die Kapitalisten sollten es nicht sein. Hinter jedem Unternehmen der freien Marktwirtschaft sollten Menschen stehen, die sich diese Frage stellen: “Dient das, was ich vorhabe, nur dem kurzfristigen finanziellen Nutzen der wirtschaftlichen Aktionäre oder dient es auch dem langfristigen sozialen Nutzen für andere Interessengruppen wie Mitarbeiter, Gemeinschaft und Umwelt?”
Die Frage, ob der amerikanische Kapitalismus bereit ist, seinen radikalen Kurswechsel weg von einer ethischen Mitte zu korrigieren, ist die wichtigste politische Frage unserer Zeit. (…)
Das oberste Zehntelprozent der Amerikaner besitzt fast so viel Vermögen wie die unteren 90 Prozent; riesige und profitable Unternehmen entlassen Tausende von Mitarbeitern aus keinem anderen Grund, als um ihre kurzfristigen Aktienkurse und ihre ohnehin schon unverschämten Abfindungspakete für Führungskräfte zu erhöhen; der Kongress gewährt riesige Subventionen und Steuererleichterungen in Höhe von Milliarden von Dollar für die Wohlfahrt der Unternehmen — und das Leben und die Sicherheit des Durchschnittsamerikaners werden unter all dem zunehmend zerstört. Und dennoch haben die Unternehmer die Frechheit zu behaupten, die Armen seien zu “anspruchsvoll”? (…)
Unternehmen an sich sind nicht das Problem, sondern nur ihr unangemessener und manchmal unethischen Einfluss auf unser politisches System. Wir wollen das System nicht abschalten. Es ist nichts Schönes daran, was in einer Gesellschaft passiert, wenn das Geld nicht mehr zirkuliert. Unsere Herausforderung besteht nicht darin, den Kapitalismus zu zerstören, sondern sein vorherrschendes Ethos zu verändern; nicht darin, die Unternehmen auf kindische und blinde Weise zu verteufeln, sondern dafür zu plädieren, dass das Gewissen in diesem System wichtig ist — und letztlich für alle von Vorteil.
Marianne Williamson spricht am Anfang vom “Geist der Demokratie”. Was die Definition von “Demokratie” ist, kann man jederzeit auf Wikipedia nachlesen. Aber was ist eigentlich die Definition von “Demokrat”? Jemand, der das Vorrecht hat, in einer Demokratie zu leben? Oder jemand, der zwar in einer Diktatur lebt, aber auf eine Demokratie hinarbeitet? Jemand, der auf die Menschenrechte pocht? Haben wir damit das “Wesen” des Demokraten tatsächlich erfasst? Dieser Frage gehen wir in der nächsten Folge nach, und zwar
am kommenden Freitag, den 4. Februar.
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Franz Büchler
Jan 28, 2022
Das kommt mir tatsächlich alles sehr bekannt vor.
Dazu gibt es im Birsfälderpünggtli auch manches zu lesen:
https://www.birsfaelder.li/wp/tag/99-initiative/
https://www.birsfaelder.li/wp/politik/eine-verspaetete-1-mai-rede-oder-eine-verfruehte-1-august-rede/
https://www.birsfaelder.li/wp/politik/sozialhilfe-besser-verteilen/