Das Chris­ten­tum ist der Keim von Got­tes Reich, schreibt Ignaz Trox­ler in sei­nen Fragmenten.

Ein ver­fäng­li­cher, ja unver­ständ­li­cher Satz, wenn man sich die dunk­le Sei­te der 2000 Jah­re Chris­ten­tum vor Augen ruft: All die Ver­fol­gun­gen, die Kreuz­zü­ge gegen Häre­ti­ker und Anders­gläu­bi­ge, die Ver­fol­gung der Juden, die Inqui­si­ti­on, die Reli­gi­ons­krie­ge, die bru­ta­len Aus­rot­tung und Aus­beu­tung der indi­ge­nen Völ­ker in der Neu­en Welt, die end­lo­sen dog­ma­ti­schen Strei­tig­kei­ten, die Kne­be­lung der frei­en For­schung und des frei­en Den­kens, das Hofie­ren und die Unter­stüt­zung der Mäch­ti­gen …, — das soll der Keim für eine neue, freie und gerech­te Welt­ord­nung sein!?

Trox­lers Satz wird erst ver­ständ­lich, wenn wir erken­nen, was er unter “Chris­ten­tum” ver­stand. Für ihn war es die kon­se­quen­te und radi­ka­le Umset­zung der Bot­schaft des Evan­ge­li­ums im täg­li­chen Leben:
Ich glau­be aber auch nicht, dass eine radi­ka­le­re, eine allen Natio­nen und Genera­tio­nen ange­mes­se­ne­re, durch­grei­fen­de­re, heil­brin­gen­de­re Refor­ma­ti­on und Revo­lu­ti­on zu leh­ren und zu stif­ten sei, als die im Evan­ge­li­um geoffenbart …
…  dass dies Evan­ge­li­um, glau­be ich, in dem Mas­se, wie es Wahr­heit und Ernst im Leben wird und sich die Welt unter­wirft, wie der Geist sei­ner Leh­re Ethik, Moral, Jus und Poli­tik der Indi­vi­du­en und Natio­nen durch­dringt, auch die Eman­zi­pa­ti­on der Mensch­heit voll­enden, und Got­tes Reich, die wah­re Repu­blik, auf Erden ver­wirk­li­chen wer­de. (Phi­lo­so­phi­sche Vor­le­sun­gen Bern, 15. Vor­trag)

Auch beim Begriff “Evan­ge­li­um” wäre eine ver­tief­te Ana­ly­se nötig. Ver­ste­hen die “Evan­ge­li­ka­len”, die Poli­ti­ker wie Donald Trump und Jair Bol­so­na­ro als Gesand­te Got­tes betrach­ten, das Glei­che dar­un­ter wie ein Hans Küng, ein Eugen Dre­wer­mann oder die Befrei­ungs­theo­lo­gen?
Was ist mit den vie­len Evan­ge­li­en, die im Lau­fe der kirch­li­chen Dog­ma­ti­sie­rung im 2. und 3. Jahr­hun­dert sys­te­ma­tisch aus­ge­son­dert und ver­nich­tet wurden?

Eine zwei­ter ent­schei­dend wich­ti­ger Punkt: Trox­ler klam­mer­te sich nicht an ein äus­se­res Dog­men­ge­bäu­de, son­dern schöpf­te aus eigen­stän­di­ger inne­rer Erkennt­nis. Sie liess ihn erfah­ren, dass eine Exis­tenz im Geis­te wah­ren Chris­ten­tums nur mit der Ent­wick­lung der urei­gens­ten mensch­li­chen Indi­vi­dua­li­tät über­haupt mög­lich wird. Im Grun­de nahm er vor­aus, was C.G. Jung spä­ter als den Pro­zess der Indi­vi­dua­ti­on beschrei­ben sollte.

Für Trox­ler stand das Indi­vi­du­um über Kir­che und Staat:
Wir sagen also: «ln Wahr­heit und Wirk­lich­keit exis­tie­ren im Men­schen­reich nur Indi­vi­du­en, nichts als Indi­vi­du­en». Die­se uni­ver­sel­le Indi­vi­dua­li­tät ist der Grund aller huma­nen Ver­hält­nis­se und ihrer gesel­li­gen und geschicht­li­chen Ent­wick­lun­gen, der Quell aller Gleich­heit in Selbst­heit und Frei­heit. die Wur­zel aller Asso­zia­ti­on in Kir­che, Staat, ja sogar in Haus und Schu­le. (9. Vor­trag)

Aus die­sem Grun­de wand­te er sich auch klar gegen die Geschichts­phi­lo­so­phie Hegels, die eine sich dia­lek­tisch voll­zie­hen­de Selbst­ver­wirk­li­chung und Selbst­be­wusst­wer­dung eines unper­sön­li­chen Welt­geis­tes pos­tu­liert und den Staat über das Indi­vi­du­um setzt.

Der Mensch wird aber nur zum unver­wech­sel­ba­ren eigen­stän­di­gen Indi­vi­du­um, wenn er sich einem tie­fen inne­ren Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess öff­net: dem oft lang­wie­ri­gen und schmerz­haf­ten Weg vom Ego-Bewusst­sein hin zu sei­nem wah­ren Selbst. Das ist der Pro­zess, der in den Evan­ge­li­en mit “Wie­der­ge­burt im Geis­te” bezeich­net wird:
Es ist die Wie­der­ge­burt des Men­schen in sei­nem eige­nen Geis­te, oder der in sein höchs­tes Selbst aus der Ver­kehrt­heit sei­nes Ichs zurück­ge­führ­te Geist. Die per­sön­li­che Unsterb­lich­keit oder die unsterb­li­che Per­sön­lich­keit als Him­mel­reich, das inwen­dig in dem Men­schen liegt, oder als ewi­ges Leben, in wel­ches wir wie­der gebo­ren wer­den sol­len, ist der Ur- und Grund­ge­dan­ke des Chris­ten­tums, und dazu haben wir ihn nun auch für die Phi­lo­so­phie erklärt.

Allent­hal­ben wird im Evan­ge­li­um für die Men­schen­na­tur der Unter­schied des abge­fal­le­nen und wie­der­ge­bo­re­nen Men­schen fest­ge­hal­ten, und so auch für Bewusst­sein und Erkennt­nis ein Wen­de­punkt bezeich­net, wel­cher durch Voll­endung von der Welt zu Gott zurück­führt, so wie die Weh ursprüng­lich von Gott aus­ge­gan­gen ist. So erscheint das Gött­li­che in sei­nem Ursprung als ein Natür­li­ches, in sei­ner Voll­endung als ein Gött­li­ches. So ist auch der Mensch, je indi­vi­du­el­ler er sich ent­wi­ckelt und aus­bil­det, des­to inni­ger eins mit dem Uni­ver­sum.
(7. Vor­trag)

Für Trox­ler ist die Wie­der­ge­burt im Geis­te “das Bewusst- und Herr­schend­wer­den mei­nes höhe­ren, innern, gött­li­chen Selbsts” (10. Vor­trag), und alle Ideo­lo­gien und Heils­leh­ren, die eine äus­se­re sozia­le oder kul­tu­rel­le Revo­lu­ti­on pre­di­gen und nicht auf der inne­ren Trans­for­ma­ti­on jedes ein­zel­nen Men­schen grün­den — so wie es im 20. Jahr­hun­dert sowohl Kom­mu­nis­mus wie Natio­nal­so­zia­lis­mus taten — sind zum Schei­tern verurteilt.
Die­se Aus­sa­ge, … fol­ge­recht durch­ge­führt, wirft alle Sys­te­me der Abs­trak­ti­on über den Hau­fen, und statt des toten Begriffs Mensch­heit steht jeder leben­di­ge Mensch schaf­fend im Mit­tel­punkt der Welt. Die­sen Satz kann aber eben nur wahr­neh­men und aus­spre­chen der Mensch, der in sich Kern, Wert und Wür­de trägt. Wer selbst nichts ist, muss sich natür­lich unter den Schutz, ich weiss nicht, wel­cher Idee, als einer ein­ge­bil­de­ten Macht, bege­ben, oder er muss gera­de­zu, wenn er schein­bar etwas stär­ker ist, das Tier­recht des Stär­ke­ren, d. h. die Selbst­sucht schlecht­weg, für sich anspre­chen. (9. Vor­trag)

Sobald also heu­te eine Ver­herr­li­chung “des Staates“oder “des Vol­kes” gepre­digt wird, soll­ten alle inne­ren Warn­lam­pen ange­hen. Das wol­len wir am top­ak­tu­el­len Bei­spiel von Eric Zem­mour, frisch­ge­ba­cke­ner fran­zö­si­scher Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat, unter­su­chen, und zwar

am kom­men­den Frei­tag, den 10. Dezember.

An ande­ren Seri­en interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hei­ner Koech­lin / Simo­ne Weil / Gus­tav Mey­rink / Nar­ren­ge­schich­ten / Bede Grif­fiths / Graf Cagli­os­tro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­wo­che und Donald Trump / Die Welt­wo­che und der Kli­ma­wan­del / Die Welt­wo­che und der lie­be Gott /Leben­di­ge Birs / Aus mei­ner Foto­kü­che / Die Schweiz in Euro­pa /Die Reichs­idee /Voge­sen / Aus mei­ner Bücher­kis­te / Ralph Wal­do Emerson

 

 

 

 

Tür.li 3 (2021)
Bundesrat verstärkt die Massnahmen

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.