Hegel erkan­nte bald ein­mal, dass seine These, der freie Wille des Men­schen sei untrennbar mit dem Erwerb von Eigen­tum ver­bun­den, eine Schwach­stelle hat­te. Die bürg­er­liche Gesellschaft, — für ihn der anzus­trebende Ide­alzu­s­tand — hat­te nolens volens eine dun­kle Kehr­seite:
Die Pri­vatisierung von Pro­duk­tion­s­mit­teln führt dazu, dass die Arbei­t­erin­nen, die den gesellschaftlichen Reich­tum pro­duzieren, diesen nicht gebrauchen kön­nen. Hegel bemerkt selb­st, dass Indus­tri­al­isierung und Bevölkerungswach­s­tum zu ein­er zunehmenden Ungle­ich­heit führen; der Anhäu­fung von Reichtümern auf der einen Seite ste­ht auf der anderen Seite eine massen­hafte Ver­ar­mung gegenüber. Aber eben­so wie für die ontol­o­gis­che Eigen­tums­be­grün­dung Hegels die Bedeu­tung des Eigen­tums nicht primär in der Bedürfnis­be­friedi­gung, son­dern in der Kon­sti­tu­tion ein­er Per­son mit einem freien Willen liegt, liegt auch das Haupt­prob­lem der Armut nicht in der materiellen Not, son­dern in der auf diese Weise erzeugten Sub­jek­tiv­ität.

Mit “Sub­jek­tiv­ität” ist wohl die sich daraus entwick­el­nde innere seel­is­che Hal­tung gemeint. Hegel sprach von der Her­aus­bil­dung des “Pöbels”:
Wenn Eigen­tum für die Her­aus­bil­dung eines freien Wil­lens notwendig ist, so führt Armut als Eigen­tum­slosigkeit zu Empörung und zum „Ver­luste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu beste­hen“.
Der Pöbel entwick­elt eine Gesin­nung, nach der er meint, ein Recht darauf zu haben, von der Gesellschaft erhal­ten zu wer­den, ohne dafür zu arbeit­en. Der Pöbel ist somit der sys­tem­a­tis­che Antipode zur freien Rechtsper­son: Während diese durch Inbe­sitz­nahme eines Gegen­standes ihren freien Willen real­isiert, führt die Besit­zlosigkeit beim Pöbel zum Ver­lust der sub­jek­tiv­en Eigen­ständigkeit und somit zu ein­er Art men­taler Per­ver­sion.

Diese Fest­stel­lung ist die logis­che Ableitung aus der Hegel’schen Grundthese, dass es ohne Eigen­tum kein freies Sub­jekt geben kann. Aber auch das scheint dem Schreiber­ling zu kurz gedacht: Was war mit den Armuts­be­we­gun­gen im Mit­te­lal­ter, die bewusst den Verzicht auf Besitz pflegten? Gemäss Hegel hät­ten aus dieser Hal­tung keine Sub­jek­te mit freiem Willen entste­hen dür­fen. Das Gegen­teil war der Fall.

Doch Hegel spricht hier natür­lich von der unfrei­willi­gen Armut als hässliche Seite der bürg­er­lichen Gesellschaft und der begin­nen­den Indus­tri­al­isierung:
Die Erzeu­gung massen­hafter Armut und die Entste­hung des Pöbels ist keine zufäl­lige, son­dern eine notwendi­ge Begleit­er­schei­n­ung der bürg­er­lichen Gesellschaft, die diese aus sich her­aus nicht lösen kann. Eine rein kar­i­ta­tive Ver­sorgung armer Men­schen ist für Hegel kein gang­bar­er Weg, da sie den freien Willen der Per­son unter­gräbt. (…)
Hegel muss also selb­st eingeste­hen, dass die Idee, Frei­heit durch das Insti­tut des Pri­vateigen­tums zu real­isieren, zumin­d­est nicht für alle funk­tion­ieren kann. Die Eigen­tum­sor­d­nung pro­duziert freie Sub­jek­te nur, indem sie zugle­ich auch unfreie pro­duziert. (…) Dies ist der Ort, an dem Hegels The­o­rie über sich selb­st hin­aus­treibt. Denn Hegel hat selb­st einge­s­tanden, dass sich die Emer­genz des Pöbels inner­halb der bürg­er­lichen Gesellschaft nicht ver­mei­den lässt. Es lässt sich somit die Emer­genz ein­er Sub­jek­tiv­ität nicht ver­mei­den, die aus einem nicht-pro­pri­etären Ver­ständ­nis von Gebrauch her­vorge­ht — der Pöbel insistiert auf ein Recht, Dinge zu gebrauchen, ohne sie zu bear­beit­en und somit ohne sie in Besitz zu nehmen.

Der Beweis, dass die ontol­o­gis­che Begrün­dung Hegels für die Notwendigkeit des Eigen­tum­ser­werbs als Grund­lage für die Her­aus­bil­dung eines freien Sub­jek­ts schon im Ansatz fehler­haft ist, find­et sich aus der Sicht des Schreiber­lings in den anar­chis­tis­chen Exper­i­menten im Spanien der Zwis­chenkriegszeit des 20. Jahrhun­derts oder in der israelis­chen Kib­buzbe­we­gung.

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 9. Feb­ru­ar

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