Da haben sich die Werber der Fakeüberschriften eine neue Falle ausgedacht: »Schweizer Recht statt fremde Richter« auch genannt »Selbstbestimmungsinitiative«.
Dabei geht es um internationales Recht, Völkerrecht — insbesondere auch um die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und natürlich (nach Herrn Röst) auch gegen die EU. Vergessen geht dabei, dass z.B. viele Fälle, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen, hätten vermieden werden können, wenn die Schweiz eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen würde.
Dazu das Beispiel Verjährungsfrist.
Wer mit Asbeststaub in Berührung kommt, erkrankt meist erst Jahrzehnte später an Asbestiose. Unternehmen (wie ABB) und die SUVA konnten sich immer wieder mit dem Verweis auf die Verjährungsfrist herausreden, wenn es um Entschädigungen und Renten für Asbestopfer ging.
Hans Moor erkrankte 2003 an einem Brustfelltumor und verstarb nach langem Leiden im Jahre 2005. Er war ab 1960 bei der Maschinenfabrik Örlikon — dann BBC — später ABB — noch später Alstom Turbinenmonteur im In- und Ausland tätig. Dabei kam er immer wieder mit Asbest in Kontakt. Weder die SUVA noch seine Arbeitgeber warnten die Angestellten vor den Asbestgefahren. Jahrzehnte später erkrankte er an den Folgen.
Alle richterlichen Instanzen der Schweiz hatten die Schadenersatzklagen von Hans Morr und nach seinem Tode seiner Angehörigen mit Hinweis auf die Verjährung abgelehnt. Begründet wurde diese ungerechte Ausgestaltung der Verjährungsfrist mit »der öffentlichen Ordnung« und »der Rechtssicherheit«. Das war zynisch, denn die Folgen der Asbestiose waren ja jeweils erst nach der Verjährungsfrist aufgetreten!
Erst der Europäische Greichtshof für Menschenrechte in Strassburg gab den Angehörigen von Hans Moor im März 2014 recht.
Die Richterinnen und Richter in Strassburg fanden, dass die bundesrichterliche Praxis der Verjährungsfrist den fairen Zugang zum Gericht missachtet. Auch Asbestopfer hätten ein Recht auf wirkungsvolle Klagen.
David Husnam, der Anwalt der Klagenden:
»Und es hat gezeigt, dass das Bundesgericht die Situation falsch darstellte. Strassburg ist ein notwendiges Korrektiv, vor allem für ein Land wie die Schweiz, das kein Verfassungsgericht kennt.«
Auswirkungen auf die Schweiz
Nach dem Urteil aus Strassburg kam einiges in Gang: Bundesrat Alain Berset initiierte einen runden Tisch, der Lösungen für die Asbestopfer suchen sollte. Aufgrund der Arbeit dieses Gremiums wurde im März 2017 die Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer (Efa) gegründet. Diese zahlt Asbestopfern und ihren Angehörigen nun relativ unbürokratisch Entschädigungen aus und betreut sie mit einem Care-Service. Das Geld stammt zum Teil von Unternehmen aus den betroffenen Branchen, aber auch von der öffentlichen Hand. Im Stiftungsrat sitzt auch David Husmann.
Auch im Bundeshaus zeigt das Urteil Auswirkungen. Der Bundesrat hatte schon kurz vor dem Urteilsspruch vom März 2014 eine Botschaft zur Verlängerung der Verjährungsfrist bei Personenschäden ins Parlament geschickt. Diese sollte auf dreissig Jahre ausgedehnt werden, jedoch nach wie vor nicht ab dem Zeitpunkt einer Erkrankung beginnen. Nachdem das Parlament die Ergebnisse des runden Tischs abwarten wollte, entschied die Rechtskommission des Nationalrats am 4. September 2017, im Rat zu beantragen, die Revision des Bundesrats abzuschreiben. Sie sei wegen der gefundenen Lösung nicht mehr erforderlich. Anderer Meinung ist die entsprechende Ständeratskommission. Nach «intensiver Diskussion» mit dem Stiftungsrat der Efa hat sie am 27. Oktober 2017 entschieden, die Revision nicht abzuschreiben. Das EGMR-Urteil beschränke sich nicht nur auf Asbestfälle. Auch in anderen «Fallkonstellationen», in denen Schäden erst nach Jahrzehnten sichtbar werden, müsse es möglich sein zu klagen.
Besonders SVP-Parlamentarier beharren auf einer kurzen Verjährungsfrist. Das Totschlagargument: Vergangenheit solle Vergangenheit bleiben. Wie wenn man einfach so vergessen könnte, dass man vor Jahrzehnten Asbeststaub eingeatmet hat …
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Dies ist eine Artikelreihe, die sich mit der SVP-Initiative »Schweizer Recht statt fremde Richter« beschäftigt. Die Übersicht über alle bis jetzt erschienenen Artikel bekommen Sie HIER.
Quellen für diese Artikelserie: Schutzfaktor M, Amnesty international, Humanrights.ch, Frau Huber geht nach Strassburg (WOZ), admin.ch